Zahlreiche Staaten – darunter Deutschland und, als Vor-„Reiter“, die USA – verstoßen häufig, ja fast schon gewohnheitsmäßig gegen völkerrechtliche Verpflichtungen, die sie mit dem Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) eingegangen sind, indem ihre gesetzgebenden Organe innerstaatliche Rechtsnormen erlassen, die sich in Widerspruch zu DBA-Normen setzen. Wenn ein solcher Staat – wie Deutschland – Völkerrecht durch einfaches Gesetz in sein innerstaatliches Recht transformiert, so dass das Völkerrecht in der Normenhierarchie mit dem innerstaatlichen Recht formal gleichrangig wird, löst die neue innerstaatliche Rechtsnorm als „lex posterior“ das aus dem DBA stammende Recht ab, d. h. das DBA-Recht wird innerstaatlich „überschrieben“, „überrollt“ oder es wird „darüber hinweggeritten“, wie auch immer man den Ausdruck „Treaty Override“ ins Deutsche übersetzen mag. Den völkerrechtlichen Sanktionen, zu denen der andere DBA-Vertragsstaat berechtigt wäre (die aber aus diesem Anlass wohl noch nie ergriffen wurden), sieht man gelassen entgegen.
Vor ca. zwei Jahren konstatierte der Vorsitzende Richter des für internationales Steuerrecht zuständigen 1. Senats des BFH, Gosch, in einem Fachaufsatz eine „geradezu inflationär anmutende ‚Treaty Override‘-Welle im deutschen Steuerrecht“, stellte eine Liste von „Sündenfällen“ zusammen und beklagte, dass „flächendeckende Treaty Overrides die DBA-Welt durcheinanderschütteln und partiell auf den Kopf stellen“. Vor kurzem nun ergriff der 1. Senat die Gelegenheit eines AdV-Verfahrens (I B 191/09, DB 2010 S. 1321, mit Anm. Heger) um – in einem für ein solches Verfahren ungewöhnlich detailliert begründeten Beschluss, der auch andere ungeklärte Streitfragen behandelt – zum Thema „Treaty Override“ eine Tendenzwende der Rechtsprechung anzukündigen.
Bisher waren sich Rechtsprechung und nahezu das gesamte Schrifttum darin einig, dass der im „Treaty Override“ liegende Völkerrechtsverstoß gerichtlich nicht angegriffen werden könne. Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) mochte nicht helfen, sah im „Treaty Override“ grundsätzlich keine Verletzung der Grundfreiheiten. Dagegen wirft der BFH jetzt die Frage auf, ob „nicht abkommensrechtlich und verfassungsrechtlich durchschlagende Gründe ersichtlich sein müssen, die die Durchbrechung der völkerrechtlich verbindlich getroffenen Vereinbarungen (Art. 59 Abs. 2 GG) erzwingen und (ausnahmsweise) rechtfertigen können“. Die neue Sicht des BFH wurde gewiss beeinflusst durch einen Beschluss des BVerfG aus dem Jahre 2004, der eine Verpflichtung aller Staatsorgane statuiert, die „die Bundesrepublik Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen zu befolgen“; Ausnahmen bedürften einer besonderen Rechtfertigung aus verfassungstragenden Prinzipien wie der Menschenwürde oder den Grundrechten. Eine derartige Rechtfertigung ist im Zusammenhang mit DBA kaum vorstellbar; das Motiv einer Korrektur des Verhandlungsergebnisses durch „Heimholung des Besteuerungsrechts“ (Gosch) für bestimmte Einkünfte aus fiskalischen Gründen erfüllt die Voraussetzungen jedenfalls nicht.
Sollte der BFH im Fortgang des Verfahrens entscheiden, dass für einen „Treaty Override“ „durchschlagende Gründe“ erforderlich, aber im konkreten Fall (in dem es um § 50 d Abs. 9 EStG im Verhältnis zu einer möglichen Freistellung von Betriebstätteneinkünften nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 DBA Spanien geht) nicht vorhanden sind, stellt der „Treaty Override“ einen Verstoß gegen das Grundgesetz dar, dessen Justiziabilität sich gerade erwiesen hätte. Aber auch wenn der Sachverhalt der jetzigen Entscheidung dieses Ergebnis letztlich nicht hergeben sollte (es wurde im AdV-Verfahren zur weiteren Sachaufklärung zurückverwiesen), dürfte ihre klare Fragestellung die Sicht auf den „Treaty Override“ bereits jetzt nachhaltig verändert haben: Steuerpflichtige werden in Zukunft mit dieser Begründung vermehrt Rechtsbehelfe einlegen und auch AdV-Verfahren betreiben – soweit nicht der Vorwurf des Abkommensmissbrauchs im Raum steht, mit Aussicht auf Erfolg.