Das „Treaty Overriding“ gehört mittlerweile zum festen Repertoire des Steuergesetzgebers. Trendsetter waren hier – wie so oft auch im Steuerrecht – die USA. Nach anfänglich berechtigter Aufregung der Deutschen Regierung über die Vertragsuntreue der Amerikaner hat man auf deutscher Seite schnell die (vermeintlichen) Vorteile dieser bewussten Verletzung von Völkerrecht erkannt, um fiskalisch unerwünschte Wirkungen der Doppelbesteuerungsabkommen auszuhebeln.
Der Vorsitzende des I. Senats beim BFH, Dietmar Gosch, hat das Treaty Overriding in einem Fachaufsatz einmal als „Heimholung des Besteuerungsrechts“ bezeichnet. Gemeint ist mit dem Treaty Override ein nationaler Gesetzgebungsakt, bei dem für den Steuerpflichtigen günstige Wirkungen des Abkommensrechts durch eine spätere innerstaatliche Regelung gezielt verdrängt werden. So verdrängt beispielsweise § 20 Abs. 2 Außensteuergesetz (AStG) bei bestimmten passiven Einkünften die i.d.R. günstige Freistellung der Gewinne einer ausländischen Betriebsstätte und ordnet den Übergang zur Anrechnungsmethode an. Ziel dabei ist die Vermeidung einer Freistellung von niedrigbesteuerten Auslandsgewinnen und die Hochschleusung auf deutsches Steuerniveau.
Im deutschen Recht lassen sich nach Gosch drei Gruppen von Treaty Overrides unterscheiden: Die historischen Treaty Overrides (z. B. der erwähnte § 20 Abs. 2 AStG), Regeln zur Missbrauchsverhinderung (z.B. § 50d Abs. 3 EStG) und die Maßnahmen zur Verhinderung einer Keinmalbesteuerung (z. B. § 50d Abs. 9 und 10 EStG).
Ein Doppelbesteuerungsabkommen ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der – zumindest nach deutscher Lesart – der Transformation (Art. 59 Abs. 2 GG) ins innerstaatliche Recht bedarf, um im Innenverhältnis Rechte und Pflichten zu begründen (dualistischer Ansatz). Ohne diesen Transformationsprozess, würden nur Rechte und Pflichten im Verhältnis zwischen den Vertragsstaaten begründet. Grundsätzlich gilt dabei der Grundsatz „pacta sunt servanda“ und Vertragsbrüche ziehen als ultima ratio die Kündigung des anderen Vertragspartners nach sich.
Ein Treaty Overriding ist ein solcher Vertragsbruch, der jedoch fast immer vom anderen Vertragspartner toleriert wird. Eine solch massive Rechtsverletzung wirft naturgemäß die Frage nach ihrer Verfassungsmäßigkeit auf. Überraschenderweise haben dazu bislang nur wenige – dafür aber sehr gewichtige – Stimmen kritisch über diese inzwischen häufige Gesetzgebungspraxis geäußert. Zu diesen Stimmen zählen der Nestor des deutschen internationalen Steuerrechts, Klaus Vogel, sein Schüler, Ekkehart Reimer, Geritt Frotscher und neuerdings immer häufiger Dietmar Gosch. Es geht hierbei um nichts Geringeres als um die Durchbrechung der Phalanx der ständigen Rechtsprechung und der h. M. in der Literatur, die eng an der Natur von DBA-Vorschriften argumentiert.
Nach h. M. wird aus den DBA-Vorschriften durch das nationale Transformationsgesetz einfaches Gesetzesrecht, das den allgemeinen Vorrangregeln („lex specialis“, „lex posterior derogat legi priori“) zu gehorchen hat. Die Tatsache, dass es sich bei den Doppelbesteuerungsabkommen um völkerrechtliche Verträge handelt, führe daher nicht zu einer Vorrangwirkung gegenüber (anderen) einfachen nationalen Gesetzen, selbst wenn diese die getroffenen Abkommensregelungen unilateral konterkarieren bzw. neutralisieren. Dies gelte ungeachtet der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (Art. 25 GG). Ein solcher Vorrang lasse sich auch nicht aus § 2 AO herleiten. § 2 AO regele zwar den Vorrang völkerrechtlicher Vereinbarungen, aber die Anordnung eines höheren Rangs für eine bestimmte Normengruppe könne nur durch eine Bestimmung erfolgen, die selbst einen höheren Rang als die Norm einnimmt, deren Rangverhältnis sie regeln will. Daraus folgt, dass es dem Gesetzgeber freistehe, einem anderen einfachen Gesetz aufgrund der lex specialis Regelung einen Vorrang einzuräumen, solange das Treaty Overriding als solches erkennbar sei. Damit sei im Innenverhältnis alles recht- insbesondere verfassungsmäßig.
Demgegenüber können sich die Kritiker um Vogel, Reimer und Gosch auf einen Beschluss des BVerfG in der Rechtsache Görgülü (vom 14. 10. 2004) berufen. Das BVerfG leitet darin eine Verpflichtung aller staatlichen Organe zur Beachtung der EMRK aus dem Rechtsstaatsprinzip herleitete. Gosch folgert aus der Entscheidung, dass die grundsätzliche Nivellierung von DBA-Recht in einfaches Recht durch das Transformationsgesetz, nach Maßgabe von Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatsprinzip) teilweise wieder rückgängig gemacht werden müsse, weil der Gesetzgeber gezwungen sei Völkervertragsrecht zu beachten und einen Völkervertragsbruch zu rechtfertigen.
Sollte sich diese Rechtsansicht einmal durchsetzen mit der Folge, müssten sämtliche deutsche DBA revidiert werden. Den Aufwand wäre es aber Wert und es wäre ein klares Bekenntnis zur Achtung der Rechte und Pflichten des anderen Vertragspartners. Die gewünschte, manchmal gebotene und notwendige Flexibilität des nationalen Steuergesetzgebers müsste dann nicht über das Parlament, sondern über Nachverhandlungen mit dem DBA-Partner gewährleistet werden.
Doch vorerst führt die verbreitete Staatenpraxis des – euphemistisch – bezeichneten Treaty Overriding zur Generierung höherer Steuereinnahmen zu nicht unerheblichen Verwerfungen in der internationalen Steuerarena. Das Postulat völkerrechtsfreundlichen Verhaltens und die Gebote der Rechtsklarheit und Planungssicherheit werden sich auch weiter fiskalischen rein nationalen Interessen unterordnen müssen.
Doch alles andere als Treaty Overriding zwecks Vermeidung von rein missbräuchlichen Verhalten wird auch in Zukunft die Konnotation als Treaty Breaching und der Geruch verfassungsrechtlicher Bedenklichkeit anhaften.