Von der (objektiv) falschen Bilanz, die (subjektiv) richtig ist

Janine v. Wolfersdorff, Geschäftsstellenleiterin des Instituts Finanzen und Steuern, Berlin

Die Frage, wann eine Bilanz als „fehlerhaft“ angesehen wird und als solche vom Steuerpflichtigen nachträglich noch berichtigt werden kann (§ 4 Abs. 2 Satz 1 EStG), reicht bis an den innersten Kern des bilanziellen Betriebsvermögensvergleichs. Sie umfasst nicht nur die spezielle Bindungswirkung für den Steuerpflichtigen selbst, sondern auch diejenige des Finanzamts an die von diesem getroffenen Bilanzierungsentscheidungen. Aktuell in den Blickpunkt gerückt ist die Fragestellung durch den Vorlagebeschluss des I. Senats des BFH vom 7. 4. 2010, der dem Großen Senat die Frage zur Entscheidung vorgelegt hat, ob das Finanzamt der Besteuerung eine Bilanz zugrunde legen muss, die – etwa aufgrund einer nachträglichen Rechtsprechungsänderung – zwar eindeutig (objektiv) falsch ist, auch ein sonstiger „ordentlicher Kaufmann“ dies bei Bilanzaufstellung und bezogen auf die am Bilanzstichtag objektiv bestehenden Verhältnisse aber nicht hätte erkennen können.

Da Bilanzierungsentscheidungen zwangsläufig  mit Unsicherheit und Ermessen behaftet sind, stellt sich im nachhinein die Frage, ob eine „richtige Bilanzierung“ nur voraussetzt, dass auch ein vergleichbarer „ordentlicher Kaufmann“ zum damaligen Zeitpunkt ebenso hätte bilanzieren können bzw. andersherum formuliert, ob eine „fehlerhafte Bilanzierung“, die eine Berichtigungsmöglichkeit nach Bilanzaufstellung und keine Bindung des Finanzamts an diese Bilanzierung zur Folge hat, stets nur subjektiv ein Verschulden des Bilanzerstellers voraussetzt („subjektiver Fehlerbegriff“).

Relevant ist dies z. B. im Fall einer sich nach Bilanzaufstellung für den Ersteller als günstig erweisenden Rechtsprechungsentwicklung. Darf insofern der ehemalige Bilanzansatz, der aus Perspektive des Bilanzaufstellungstags noch steuerrechtlich vertretbar und „richtig“ war, nun durch den Ersteller berichtigt werden? Sachlich betroffen können etwa Rückstellungspositionen sein; je nach Reichweitendefinition des Maßgeblichkeitsgrundsatzes und mithin der steuerlichen Bilanzierungswahlrechte ergibt sich ein größerer oder kleinerer (Teilwertabschreibungen?) Anwendungsbereich der Bilanzberichtigung in Abgrenzung zur sog. Bilanzänderung nach § 4 Abs. 2 Satz 2 EStG (begrenzt möglicher Austausch richtiger Bilanzansätze).

Der Vorlagebeschluss des I. Senats war nun Anlass einer Untersuchung durch Thomas Stapperfend, Vorsitzender Richter am FG Berlin-Brandenburg, im Auftrag des Instituts Finanzen und Steuern. Er kommt zum Ergebnis, dass der bislang bemühte subjektive Fehlerbegriff im Gesetz keine Stütze findet und sowohl hinsichtlich Rechts- als auch Tatfragen (mit Differenzierung für Ermessensentscheidungen) eine Abkehr erforderlich ist  (IFSt-Schrift Nr. 464).

Gedanklich muss man bei der Frage, wann eine Bilanz als „falsch“ zu berichtigen ist und eine Bindungswirkung des Finanzamts (nicht) besteht, zwischen materiellem Recht und Verfahrensrecht trennen. Eine Besonderheit der bilanziellen Gewinnermittlung ist eben, dass der tatsächliche kaufmännische Gewinn erst am Ende der unternehmerischen Tätigkeit feststeht. Durch die Periodenabschnittsbetrachtung hin zu einem Bilanzstichtag werden eigentlich zusammenhängende periodenübergreifende Geschäftsvorfälle bei gleichzeitiger Unsicherheit über künftige Entwicklungen bilanziell durchschnitten; Bilanzierungsfehler laufen wie eine „Masche“ auch durch die folgenden  Betriebsvermögensvergleiche („formeller Bilanzzusammenhang“).  Es stellt sich daher zum einen materiell die Frage nach einer möglichst „rückgreifenden“ und gewissermaßen die Fehlerlänge reduzierenden Korrektur (via § 4 Abs. 2 Satz 1 EStG) sowie schließlich verfahrensrechtlich die Frage nach Rechtsfrieden und Vertrauensschutz für den Bilanzersteller, der „gutgläubig“ bilanziert hat.

Materiellrechtlich „falsch“ hinsichtlich Rechtsfragen kann dabei nur ein sich losgelöst von subjektiven Erkenntnismöglichkeiten als falsch erweisender Bilanzansatz sein. Der steuerlich zu erfassende „zutreffende Gewinn“ erfordert im Sinne einer Gleichmäßigkeit der Besteuerung, hier einen weitgehend objektiven Maßstab anzulegen. Auch für Tatfragen dürfte zunächst nichts anderes gelten als der Entscheid nach objektiv richtig oder falsch. Materiellrechtlich rückt dabei allerdings auch das Stichtagsprinzip mit der Frage in den Vordergrund, ob nach dem Bilanzstichtag erst der Grund für einen geänderten Bilanzansatz „gesetzt“ wurde (Wertbegründung) oder sich dieser nur nachträglich als anders klärt (Wertaufhellung), was einzig eine Bilanzberichtigung erlaubt.

In einem zweiten Schritt stellt sich indes die verfahrensrechtliche Frage nach der Reichweite von Rechtsfrieden und Vertrauensschutz, die die Frage nach dem gesetzmäßig richtigen Bilanzansatz zum Teil überlagern.  Die Bilanzberichtigung nach § 4 Abs. 2 Satz 1 EStG ist zwar grundsätzlich nur Wahlrecht, nicht Pflicht des Bilanzerstellers. Vertrauensschutz für ihn besteht zumindest bei Rechtsprechungsänderungen zu seinen ungunsten. Korrekturnotwendigkeiten dem Ergebnis nach können sich aber aus dem Verfahrensrecht für Steuererklärung bzw. Steuerbescheid ergeben; wegen des formellen Bilanzzusammenhangs sicherlich eine unsaubere Korrektur nur an der „Fassade“, nicht am „Grund“. Das Finanzamt schließlich darf – in den Grenzen von Vertrauensschutz und Billigkeit des Einzelfalls – eine fehlerhafte Bilanz der Besteuerung nicht zugrunde legen.

Der „subjektive Fehlerbegriff“ basiert nun auf der Vorstellung einer ehemals „richtigen“ Bilanz, die – materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Fragestellung insofern vermengend – weiterhin als richtig gilt.  Dass § 4 Abs. 2 Satz 1 EStG dem Ersteller eine unbegrenzte Berichtigungsmöglichkeit zudem gerade nur bei Verschulden erlaubt, steht auch gewissermaßen im Widerspruch zum Grundtenor der verfahrensrechtlichen Änderungsvorschriften. Dennoch ist eine Abkehr vom „subjektiven Fehlerbegriff“ jedenfalls für Tatfragen derzeit schwerlich denkbar, ohne hier auch legislativ das Verfahrensrecht neu zu justieren – dies gilt nicht zuletzt auch mit Blick auf marktunüblich hohe steuerliche Nachzahlungszinsen. Für Rechtsfragen ist im beiderseitigen Interesse von Fiskus und Bilanzersteller allerdings ein Abrücken vom subjektiven Fehlerbegriff durch den BFH zu erhoffen.

Eine ganz andere Frage ist schließlich diejenige nach der Notwendigkeit des Vorlagebeschlusses zum Großen Senat des BFH. Der Entscheid des Großen Senats darf sicherlich mit Spannung erwartet werden.

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