Werden zinstragende Wertpapiere (Schuldverschreibungen) unterjährig veräußert, ist in dem vom Erwerber an den Veräußerer zu zahlenden Kurswert zusätzlich zu dem Kaufpreis für die Papiere selber ein Betrag erhalten (oder wird von vornherein getrennt ausgewiesen), der wirtschaftlich die vom letzten Zinstermin bis zum Veräußerungszeitpunkt rechnerisch aufgelaufenen Zinsen repräsentiert, die sog. Stückzinsen. Dieser Betrag ist nach deutschem Steuerrecht vom Empfänger (dem Veräußerer der Schuldverschreibung) zu versteuern: seit 2009 unterliegt er der Abgeltungsteuer, vorher war er nur im Rahmen der Veranlagung zu erfassen, weil insoweit keine Kapitalertragsteuer erhoben wurde. Für den Erwerber der Schuldverschreibung waren und sind die gezahlten Stückzinsen nicht etwa Anschaffungskosten, sondern im Jahr der Zahlung abziehbare negative Einnahmen.
Im derzeitigen Regelungskontext des deutschen Steuerrechts spielt es keine Rolle, ob der Betrag als „Zinsen“ oder irgendetwas anderes, z. B. „Veräußerungsgewinn“ charakterisiert werden kann, weil die Besteuerungsfolgen unabhängig davon konkret gesetzlich angeordnet sind. Die Tatsache, dass der Betrag nicht vom Emittenten der Schuldverschreibung gezahlt wird, sondern von dem Erwerber an den Veräußerer, sowie die systematische Stellung im Gesetz sprechen dafür, dass der deutsche Gesetzgeber trotz des wirtschaftlichen Gehalts und der Bezeichnung Stückzinsen eher als Veräußerungsgewinn einordnet.
Wie so oft, ist es mit der Gleichgültigkeit hinsichtlich der Einkunftsart vorbei und muss Farbe bekannt werden, sobald ein DBA anzuwenden ist. In dem konkreten Fall, den der BFH kürzlich entschieden hat (Urteil vom 9. 6. 2010, I R 94/09, DB0391444), ging es zwar um das DBA mit Brasilien, das seit 2005 gekündigt ist. Die Aussagen des Urteils sind aber auf zahlreiche andere DBA übertragbar, in denen Deutschland die sog. „fiktive Anrechnung“ von Quellensteuer auf Zinsen zugestanden hat, d. h. auf Zinseinkünfte in Deutschland ansässiger Empfänger eine Anrechnung von Quellensteuer auch dann gewährt, wenn eine solche gar nicht oder jedenfalls nicht in der anzurechnenden Höhe von dem ausländischen Vertragspartnerstaat erhoben wurde. Sinn dieser – in fast allen deutschen DBA mit Entwicklungsländern enthaltenen – Regelungen ist, Steueranreize, die der Quellenstaat zur Förderung seiner wirtschaftlichen Entwicklung gibt, dem Steuerpflichtigen selber und nicht dem Fiskus seines Wohnsitzstaats Deutschland durch „Aufsaugen“ bei der Steueranrechnung zugute kommen zu lassen.
In dem vom BFH entschiedenen Fall ging es also um die Frage, ob von dem brasilianischen Käufer an den deutschen Verkäufer einer Schuldverschreibung gezahlte Stückzinsen unter die Zinsdefinition des einschlägigen DBA fielen – dann hätte Deutschland eine fiktive ausländische Quellensteuer i.H. von 20% zur Anrechnung zulassen müssen – oder nicht. Der BFH untersucht im Rahmen der zweiteiligen Zinsdefinition des DBA Brasilien zunächst, ob es sich bei den Stückzinsen um „Einkünfte aus Schuldverschreibungen“ oder „aus Forderungen“ handelt.
Der BFH verneint dies mit dem Hinweis auf den offiziellen Kommentar zum OECD-Musterabkommen, nach dem zu den Einkünften „aus Forderungen“ nur diejenigen gehören, die der Gläubiger von dem Schuldner der Kapitalforderung (vom Emittenten der Schuldverschreibung) erhält, Stückzinsen hingegen den Veräußerungsgewinnen zugerechnet werden. Sodann musste sich der BFH aber noch mit dem – im OECD-Musterabkommen nicht vorgesehenen – zweiten Teil der Zinsdefinition des (nicht mehr geltenden) DBA Brasilien auseinandersetzen, nach dem als Zinsen auch „alle anderen Einkünfte“ einzuordnen sind, „die nach dem Steuerrecht des Vertragstaats, aus dem sie stammen, den Einkünften aus Darlehen gleichgestellt sind“. Dies trifft – so der BFH – nach brasilianischem Recht für Stückzinsen aus brasilianischer Quelle nicht zu.
Angesichts der Vielzahl der deutschen Abkommen mit Regelungen zur „fiktiven Anrechnung“ ist das BFH-Urteil über den – als solchen nicht mehr relevanten – entschiedenen Einzelfall hinaus beachtenswert.