Der Bundesrat hat am 26. 11. 2010 das Jahressteuergesetz 2010 (JStG 2010) verabschiedet. Mit diesem Artikelgesetz werden zahlreiche Normen, u. a. des Einkommen-, Körperschaft- und Außensteuergesetzes sowie der Abgabenordnung, geändert bzw. neu eingeführt. Mit einigen gesetzlichen Neuregelungen reagiert der Gesetzgeber auf kürzlich ergangene Rechtsprechung des BFH, die von der bisherigen Verwaltungsauffassung abweicht. So soll bei der Entstrickung, dem Teilabzugsverbot bei fehlenden Beteiligungseinkünften und der Steuerbarkeit von Erstattungszinsen die jeweilige Verwaltungsauffassung gesetzlich festgeschrieben werden. Im Ergebnis ist das eine gesetzliche Kodifizierung von Nichtanwendungserlassen. Die folgenden Änderungen des JStG 2010 werden in der Beratungspraxis von besonderer Bedeutung sein.
Neuerungen bei der Entstrickung
Nach der sogenannten finalen Entnahmetheorie sind die stillen Reserven eines Wirtschaftsguts steuerwirksam zu realisieren, wenn u. a. aufgrund einer grenzüberschreitenden Verbringung des Wirtschaftsguts die stillen Reserven der deutschen Besteuerung entzogen werden (z. B. infolge der Zuordnung zu einer ausländischen Freistellungs-Betriebsstätte). Nach den durch das SEStEG eingeführten allgemeinen Entstrickungstatbeständen (§ 4 Abs. 1 Satz 3 EStG, § 12 Abs. 1 KStG) sind stille Reserven aufzudecken, sofern das Besteuerungsrecht Deutschlands hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung oder aus der Nutzung eines Wirtschaftsguts ausgeschlossen oder beschränkt wird.
Mit Urteil vom 17. 7. 2008 (Az. I R 77/06, DB 2008 S. 2281) hat der BFH unter Änderung der Rechtsprechung entschieden, dass für die finale Entnahmetheorie vor den Neuregelungen durch das SEStEG keine hinreichende gesetzliche Grundlage bestand. Aus der Überführung des Wirtschaftsguts in die ausländische Freistellungs-Betriebsstätte folge deshalb grundsätzlich keine sofortige Gewinnrealisierung. Jedoch stehe die Überführung des Wirtschaftsguts einer künftigen Besteuerung der im Inland gebildeten stillen Reserven nicht entgegen. Insoweit habe Deutschland für die vor Verbringung entstandenen stillen Reserven weiterhin das Besteuerungsrecht. Die Übertragbarkeit der Urteilsgrundsätze auf die Neuregelungen durch das SEStEG hat der BFH offen gelassen.
Durch das JStG 2010 werden die Entstrickungstatbestände jeweils um ein Regelbeispiel erweitert, das an die Zuordnung des Wirtschaftsguts anknüpft. Danach liegt ein Ausschluss oder eine Beschränkung des Besteuerungsrechts insbesondere vor, wenn ein bisher einer inländischen Betriebsstätte des Steuerpflichtigen zuzuordnendes Wirtschaftsgut einer ausländischen Betriebsstätte zuzuordnen ist (§ 4 Abs. 1 Satz 4 EStG n. F., § 12 Abs. 1 Satz 2 KStG n. F.).
Die allgemeinen Entstrickungsregeln nach SEStEG sind erstmals für nach dem 31. 12. 2005 endende Wirtschaftsjahre anwendbar. Nunmehr sollen diese Neuregelungen, inklusive des neuen Regelbeispiels, auch für Wirtschaftsjahre anzuwenden sein, die vor dem 1. 1. 2006 enden, wenn ein bisher einer inländischen Betriebsstätte eines unbeschränkt Steuerpflichtigen zuzuordnendes Wirtschaftsgut einer ausländischen Betriebsstätte dieses Steuerpflichtigen zuzuordnen ist, deren Einkünfte durch ein DBA freigestellt sind. Gleiches gilt, wenn das Wirtschaftsgut bei beschränkt Steuerpflichtigen nicht mehr einer inländischen Betriebsstätte zuzuordnen ist.
Neben der finalen Entnahmetheorie hat der BFH auch die finale Betriebsaufgabetheorie aufgegeben (Urteil vom 28. 10. 2009, Az. I R 99/08, DB 2010 S. 488 [LS]), wonach die Verlagerung eines Betriebs ins Ausland eine Betriebsaufgabe darstellt. Als Reaktion darauf wird die finale Betriebsaufgabetheorie durch das JStG 2010 gesetzlich verankert. Der Aufgabe eines Gewerbebetriebs steht der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts Deutschlands hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung sämtlicher Wirtschaftsgüter des (Teil-)Betriebs gleich (§ 16 Abs. 3a EStG n. F.). Das oben dargestellte Regelbeispiel gilt entsprechend. Sind die Wirtschaftsgüter nach der Betriebsverlagerung einer EU/EWR-Betriebsstätte zuzurechnen, kann auf Antrag die Steuer auf den Aufgabegewinn zinslos in fünf gleichen Jahresraten entrichtet werden, sofern zwischen den beteiligten Staaten Amtshilfe geleistet wird (§ 36 Abs. 5 EStG n. F.). Von den Neuregelungen sind alle nicht bestandskräftigen Fälle betroffen.
Modifikation der Stille-Reserven-Klausel des § 8c KStG
Im Rahmen der Verlustabzugsbeschränkung des § 8c KStG wird die Stille-Reserven-Klausel angepasst (§ 8c Abs. 1 Satz 6 ff. KStG). Diese sieht bislang vor, dass Verluste im Fall eines schädlichen Beteiligungserwerbs nicht untergehen, soweit sie von den steuerpflichtigen stillen Reserven des inländischen Betriebsvermögens der Körperschaft gedeckt sind. Mit dem JStG 2010 wird die Beschränkung auf das inländische Betriebsvermögen aufgehoben. Vielmehr soll auch solches ausländisches Betriebsvermögen Berücksichtigung finden, für das Deutschland das Besteuerungsrecht zusteht, z. B. Betriebsvermögen einer ausländischen Anrechnungs-Betriebsstätte (§ 8c Abs. 1 Satz 6 KStG n. F.).
Eine weitere Änderung betrifft die Ermittlung der stillen Reserven. Diese sind bisher ausschließlich durch Gegenüberstellung des (anteiligen) steuerlichen Eigenkapitals der Körperschaft und dem gemeinen Wert der Anteile an der Körperschaft zu ermitteln. Für den Fall, dass das Eigenkapital der Verlustgesellschaft negativ ist, sieht die Neuregelung vor, dass die stillen Reserven durch Gegenüberstellung des (anteiligen) in der steuerlichen Gewinnermittlung ausgewiesenen Eigenkapitals der Körperschaft und dem diesen Anteil entsprechenden gemeinen Wert des Betriebsvermögens der Körperschaft (an Stelle des gemeinen Werts der Anteile) zu ermitteln sind (§ 8c Abs. 1 Satz 8 KStG n. F.). Durch diese Änderung soll verhindert werden, dass sich rein rechnerisch stille Reserven ergeben, obwohl keine stillen Reserven vorhanden sind.
Die Neufassung soll erstmals für den Veranlagungszeitraum 2010 anzuwenden sein. Somit wären auch bereits vollzogene Beteiligungserwerbe von den Neuregelungen umfasst.
Neuerungen bei der Hinzurechnungsbesteuerung
Im Bereich der Hinzurechnungsbesteuerung kommt es zu Änderungen bei der Bestimmung der Niedrigbesteuerung und des Hinzurechnungsbetrags. Eine Niedrigbesteuerung im Sinne der deutschen Hinzurechnungsbesteuerung liegt vor, wenn die Einkünfte der ausländischen Gesellschaft einer Belastung mit Ertragsteuern von weniger als 25% unterliegen, ohne dass dies auf einem Ausgleich mit Einkünften aus anderen Quellen beruht.
Im Rahmen des JStG 2010 wird zur Ermittlung einer Niedrigbesteuerung geregelt, dass in die Belastungsberechnung Ansprüche einzubeziehen sind, die der Staat oder das Gebiet der ausländischen Gesellschaft im Fall einer Gewinnausschüttung dieser Gesellschaft dem unbeschränkt Steuerpflichtigen oder einer anderen Gesellschaft, an der der Steuerpflichtige direkt oder indirekt beteiligt ist, gewährt (§ 8 Abs.3 Satz 2 AStG n. F.). Dadurch sollen nach der Gesetzesbegründung Umgehungsgestaltungen verhindert werden, in denen die über 25% liegende Normalbesteuerung der ausländischen Gesellschaft durch weitergehende Entlastungsansprüche der Gesellschafter ausgeglichen wird. Es soll daher künftig eine Niedrigbesteuerung vorliegen, wenn bei konsolidierter Betrachtung (Betrachtung der Ebene der ausländischen Gesellschaft sowie der Erstattungsansprüche der Gesellschafter) die Ertragsteuerbelastung weniger als 25% beträgt.
Bei der Ermittlung des Hinzurechnungsbetrags sollen künftig die steuerpflichtigen Einkünfte um die (effektive) Steuerlast der ausländischen Zwischengesellschaft nach Verrechnung mit den Entlastungsansprüchen gekürzt werden (§ 10 Abs. 1 Satz 3 AStG n. F.). Auf Antrag des Steuerpflichtigen kann statt des Steuerabzugs nach § 10 Abs. 1 AStG auch die Steueranrechnung nach § 12 AStG gewählt werden.
Die Neuregelungen zur Hinzurechnungsbesteuerung gelten erstmalig für den Veranlagungszeitraum bzw. den Erhebungszeitraum, für den Zwischeneinkünfte hinzuzurechnen sind, die in einem Wirtschaftsjahr der ausländischen Gesellschaft bzw. Betriebsstätte entstanden sind, das nach dem 31. 12. 2010 beginnt.
Verlagerung der Buchführung
Mit dem Jahressteuergesetz 2009 wurden Regelungen eingeführt, auf Antrag die elektronische Buchführung ins Ausland zu verlagern. Diese bisher grundsätzlich auf die Verlagerung der Buchführung in EU/EWR-Staaten beschränkte Möglichkeit wird durch das JStG 2010 auch auf Drittstaaten ausgedehnt. Klarstellend wird ergänzt, dass auch nur ein Teil oder mehrere Teile der elektronischen Buchführung verlagert werden können.
Voraussetzung für die Verlagerung der Buchführung ins Ausland war bislang unter anderem, dass der Steuerpflichtige die Zustimmung des ausländischen Staates zur Durchführung des Datenzugriffs vorlegt. Auf dieses in der Praxis problematische Erfordernis soll künftig verzichtet werden. Stattdessen sieht die Neuregelung vor, dass die Besteuerung durch die Verlagerung der Buchführung nicht beeinträchtigt werden darf (§ 146 Abs. 2a Satz 2 Nr. 4 AO n. F.).
Ausweislich der Gesetzesbegründung umfasst die Nichtbeeinträchtigung der Besteuerung nicht nur die Erfüllung der Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten, sondern die Erfüllung sämtlicher steuerlicher Pflichten. Werden der Finanzbehörde Umstände bekannt, die zu einer Beeinträchtigung der Besteuerung führen, ist die Bewilligung zur Verlagerung der Buchführung ins Ausland zu widerrufen und die unverzügliche Rückverlagerung der Buchführung ins Inland zu verlangen. Kommt der Steuerpflichtige der Aufforderung zur Rückverlagerung innerhalb einer ihm bestimmten angemessenen Frist nicht nach, droht ihm die Festsetzung eines Verzögerungsgeldes von bis zu 250.000 €. Die Neuregelung soll erstmals am Tag nach der Verkündung des JStG 2010 im Bundesgesetzblatt Anwendung finden.
Umgliederungsvorschriften vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren
Das BVerfG hat mit Beschluss vom 17. 11. 2009 entschieden, dass die Umgliederungsvorschriften vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren (§ 36 Abs. 3 und 4 KStG) gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 GG) verstoßen, soweit sie umgliederungsbedingt zu einem Verlust von Körperschaftsteuerminderungspotenzial führen. Die Feststellung der Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz wirkt auf den 1. 1. 2001 zurück. Das BVerfG verpflichtete den Gesetzgeber, für nicht bestandskräftige Fälle spätestens mit Wirkung zum 1. Januar 2011 eine Neuregelung zu treffen. Dieser Verpflichtung kommt der Gesetzgeber nunmehr mit dem JStG 2010 nach (§ 34 Abs. 13f, 13g KStG n. F.).
Teilabzugsverbot bei fehlenden Beteiligungseinkünften
Nach der Rechtsprechung des BFH sind Erwerbsaufwendungen (z. B. Anschaffungskosten, Veräußerungskosten, Betriebsvermögensminderungen) im Zusammenhang mit Einkünften aus § 17 Abs. 1 und Abs. 4 EStG (Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften) in vollem Umfang abzugsfähig, wenn der Steuerpflichtige aus der Beteiligung keine Einnahmen erzielt. Nach Auffassung der Finanzverwaltung genügt die abstrakte Möglichkeit der Einnahmenerzielung zur Anwendbarkeit des Teilabzugsverbots (vgl. dazu Steuerboard-Beitrag vom 18. 6. 2010). Im Rahmen des JStG 2010 wird die Verwaltungsauffassung nunmehr festgeschrieben. Danach ist für die Anwendung des Teilabzugsverbots die Absicht zur Erzielung von Betriebsvermögensmehrungen oder Einnahmen im Sinne des § 3 Nr. 40 EStG oder von Vergütungen im Sinne des § 3 Nr. 40a EStG ausreichend (§ 3c Abs. 2 Satz 2 EStG n. F.). Die Neuregelung soll erstmals ab dem Veranlagungszeitraum 2011 anzuwenden sein.
Steuerbarkeit von Erstattungszinsen
Mit Urteil vom 15. Juni 2010 (Az. VIII R 33/07, DB 2010 S. 1970) hat der BFH seine Rechtsprechung zur Steuerpflicht von Erstattungszinsen (§ 233a AO) geändert. Hiernach unterliegen Erstattungszinsen nicht der Besteuerung, soweit sie auf Steuern entfallen, die gemäß § 12 Nr. 3 EStG als nicht abzugsfähige Ausgaben gelten, da diese Vorschrift bestimmte Steuern dem nichtsteuerbaren Bereich zuweise. Das JStG 2010 schreibt nunmehr gesetzlich fest, dass Erstattungszinsen Erträge aus sonstigen Kapitalforderungen sind (§ 20 Abs. 1 Nr. 7 Satz 3 EStG n. F.). Die Neufassung soll in allen Fällen zur Anwendung gelangen, in denen die Steuer noch nicht bestandskräftig festgesetzt ist.
Nach der Zustimmung des Bundesrats zum JStG 2010 steht noch die Verkündung im Bundesgesetzblatt aus, die bis zum Jahresende erfolgen soll.