Die aktuelle Finanzkrise und die dagegen getroffenen Maßnahmen der EU-Mitgliedstaaten zeigen in besonderer Weise die Intensität, den die fortschreitende Weiterentwicklung des gemeinsamen Marktes inzwischen erreicht hat. Sie machen aber zugleich deutlich, wie viel an nationaler Souveränität inzwischen auf die Europäische Union übergegangen ist oder zumindest von ihr – ungeachtet der demokratischen Mitwirkungsrechte in den jeweiligen Mitgliedstaaten – präjudiziert werden kann, wenn man nur an die erheblichen Einschnitte in staatliche Leistungen durch diejenigen Staaten wie Griechenland und aktuell Irland denkt, die unter dem sog. „Rettungsschirm“ anderer europäischer Staaten Stützungsmaßnahmen in Anspruch nehmen müssen.
So unverzichtbar solche nationalen Einschnitte in das soziale Netz hilfebedürftiger Mitgliedstaaten auf Veranlassung der EU auch sein mögen, treffen sie doch auf eine verbreitete Skepsis gegenüber der Union und der mit fortschreitender Integration zumindest „gefühlten“ Erosion demokratischer Einflussnahmemöglichkeiten der Bürger. Die gescheiterten Volksabstimmungen in einigen EU-Staaten zu einem europäischen Verfassungsvertrag sind dafür ebenso ein Zeichen wie die gegen den sog. „Lissabon-Vertrag“ gerichteten Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem BVerfG (Urteil vom 30. 6. 2009 – 2 BvE 2/08, BVerfGE 123 S. 267), die zu einer zum Teil erheblich kritisierten restriktiven Auslegung der verfassungsrechtlichen Kompetenzen zur Übertragung von Zuständigkeiten auf die EU sowie zur Begrenzung der EU-Kompetenzen auf den Rahmen der Einzelermächtigungen in den Gemeinschaftsverträgen geführt hat.
Kompetenz des EuGH hinsichtlich der Wahrung und Auslegung der Verträge
In diesen Zusammenhang gehört auch die Kritik an der Rechtsprechung des EuGH, sie erstrecke sich zuweilen auf Felder wie z. B. das Recht der direkten Steuern, für die die Union mangels ausdrücklicher Kompetenzen keine Befugnis habe.
Gleichwohl ist dieser Vorwurf nicht berechtigt. Denn die Mitgliedstaaten haben auch ihre alleinige Gesetzgebungshoheit im Bereich der direkten Steuern Gesetze „unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts auszuüben (EuGH-Urteil vom 12. 12. 2002 – Rs. C-385/00 – de Groot, EuGHE 2002 S. I-11819). Diese Pflicht beruht auf den Gemeinschaftsverträgen, deren Wahrung und Auslegung dem EuGH als Aufgabe zugeschrieben ist. Für diese vom EuGH angenommene Zuständigkeit spricht des Weiteren die Parallele des Verhältnisses zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zu dem Verhältnis des Bundes und der Länder im föderalen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland. Denn das europarechtliche Gebot der Mitgliedstaaten, ihre Gesetzgebungskompetenz im Bereich der direkten Steuern „unter Wahrung der Grundfreiheiten der EG-Verträge“ auszuüben, entspricht funktionell dem Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme, das für die Abgrenzung der unterschiedlichen Kompetenzbereiche zwischen dem Bund und den Bundesländern im Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens bei Ausübung der Länderzuständigkeiten eine parallele Ausprägung findet. Auch die (bundesrechtliche) Kehrseite dieses Grundsatzes, nämlich das Gebot, bei der Ausübung bundesrechtlicher Zuständigkeiten Länderinteressen angemessen zu berücksichtigen (sog. Gebot länderfreundlichen Verhaltens) findet seine Entsprechung in dem europarechtlich statuierten Kohärenzprinzip ebenso wie in dem in jüngerer Zeit betonten Territorialprinzip als Rechtfertigungsgrund für nationale Steuerregelungen.
Die Austarierung dieser wechselseitigen Rücksichtnahmepflichten bleibt eine stets spannende und immerwährende Aufgabe in der steuerrechtlichen Diskussion. So ist es kein Wunder, dass sich der Deutsche Finanzgerichtstag am 24. 1. 2011 erneut mit den „Europäischen Perspektiven im Steuerrecht“ befassen wird (vgl. www.finanzgerichtstag.de/).
Begrenzte Prüfung von Kompetenzüberschreitungen der EU-Organe durch das BVerfG
In ständiger Rechtsprechung geht das BVerfG davon aus, dass es dann EU-Akte einschließlich von EuGH-Entscheidungen zu überprüfen hat, wenn sie die Grenze der –europarechtlich durch die Gemeinschaftsverträge nach dem Grundsatz der Einzelermächtigung gezogenen- Befugnisse überschreiten und damit als ausbrechende Akte im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG unbeachtlich sind. Diese Grenze hat das BVerfG mit Beschluss vom 6. 7. 2010 (Az. 2 BvR 2661/06, DB0363529) nunmehr – gegenüber seiner „Lissabon-Entscheidung“ ersichtlich europafreundlicher – präzisiert.
Das Verfahren betraf die Verfassungsbeschwerde einer Firma gegen ein Urteil des BAG (Az. 7 AZR 500/04, DB 2006 S. 1734). Dieses hatte der Entfristungsklage eines 53-jährigen Arbeitnehmers gegen die auf § 14 Abs. 3 TzBfG a. F. gestützte sachgrundlose Befristung seines Arbeitsvertrages mit der Begründung stattgegeben, nach der für das BAG bindenden sog. „Mangold“-Entscheidung des EuGH (Urteil vom 22. 11. 2005 – Rs. C-144/04, EuGHE 2005 S. I-9981 = DB 2005 S. 2638, bestätigt durch Urteil vom 19. 1. 2010 – Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, DB 2010 S. 228) sei § 14 Abs. 3 TzBfG a. F. europarechtswidrig. Den mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Einwand der Firma, das BAG hätte sich wegen Kompetenzüberschreitung des EuGH in der Sache Mangold nicht auf dessen Entscheidung berufen dürfen, wies das BVerfG zurück.
Es geht zwar unverändert auf der Grundlage des „Lissabon“-Urteils von seiner Pflicht aus, substantiierten Rügen eines Ultra-vires-Handelns europäischer Organe zu untersuchen, sieht sich aber mit Blick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts darauf beschränkt, dass nur ein „hinreichend qualifizierter“ Verstoß im Sinne eines offensichtlichen und erheblich ins Gewicht fallenden kompetenzwidrigen Handeln der Unionsgewalt gegen das GG verstoße. Zugleich hat es als Voraussetzung einer entsprechenden Rüge gefordert, eine entsprechende Rüge im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV) durch das jeweilige Fachgericht gegenüber dem EuGH geltend zu machen. Damit ist eine Kontrolle der Urteile des EuGH durch das BVerfG allenfalls in absoluten Ausnahmefällen denkbar. Diese Klarstellung trägt wesentlich zur Rechtssicherheit in der Abgrenzung von Europa- und Verfassungsrecht bei.