Von der enttäuschten Hoffnung auf einfache und verständliche Steuergesetze

Steuergesetze können gut verständlich und einfach sein; sie können, aber meist sind sie es nicht. Ein Beispiel für eine kurze und für jedermann nachvollziehbare Gesetzesformulierung ist § 4 Abs. 4 EStG: „Betriebsausgaben sind Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind“. Die Vorschrift ist schon recht alt, sie findet sich gleichlautend bereits im Einkommensteuergesetz aus dem Jahre 1934 und ist seltsamerweise ein unverändert schlanker Absatz einer Norm, die im Laufe der Jahre stets zugenommen hat. 1982, als Ludwig Schmidt die 1. Auflage seines Einkommensteuergesetzes herausgab, hatte § 4 EStG sechs Absätze und umfasste in der Beck‘schen Textausgabe weniger als zwei Seiten, heute hat die Vorschrift zehn Absätze und umfasst mehr als fünf Druckseiten.

Die wundersame Textvermehrung gilt natürlich auch für viele andere, ja für die meisten Normen des Einkommensteuergesetzes. Die Grundnorm des § 2 EStG, welche die sachliche Steuerpflicht regelt, umfasste 1982 weniger als eine Seite und hat sich mittlerweise fast verdoppelt. Aber immerhin: Die Norm war schon mal voluminöser! 1999 hatte der Gesetzgeber in § 2 Abs. 3 EStG eine allgemeine Verlustausgleichsbeschränkung eingeführt. Danach konnte das positive Einkommen, soweit es 100.000 DM überstieg, nur noch zur Hälfte durch Verluste gemindert werden. Bei fehlender Leistungsfähigkeit sollte in Verlustsituationen eine Mindestbesteuerung sichergestellt werden.

Die Vorschrift war an Kompliziertheit nicht zu überbieten. Sie regelte in den Sätzen 4 und 5 des insgesamt acht Sätze umfassenden Absatzes kompliziert genug die Technik der Einkünfteminderung und erreicht dann in Satz 6 den Grad vollständiger Unverständlichkeit: „Bei Ehegatten, die nach §§ 26, 26 b zusammen veranlagt werden, sind nicht nach den Sätzen 2 bis 5 ausgeglichene negative Einkünfte des einen Ehegatten dem anderen Ehegatten zuzurechnen, soweit sie bei diesem nach den Sätzen 2 bis 5 ausgeglichen werden können; können negative Einkünfte des einen Ehegatten bei dem anderen Ehegatten zu weniger als 100.000 Deutsche Mark ausgeglichen werden, sind die positiven Einkünfte des einen Ehegatten über die Sätze 2 bis 5 hinaus um den Unterschiedsbetrag bis zu einem Höchstbetrag von 100.000 Deutsche Mark durch die noch nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte dieses Ehegatten zu mindern, soweit der Betrag der Minderungen bei beiden Ehegatten nach den Sätzen 3 bis 6 den Betrag von 200.000 Deutsche Mark zuzüglich der Hälfte des den Betrag von 200.000 Deutsche Mark übersteigenden Teils der zusammengefassten Summe der positiven Einkünfte beider Ehegatten nicht übersteigt.“

Wenn Sie, lieber Leser, trotz redlichen Bemühens diesen Satz nicht verstehen, so befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Der BFH verstand ihn auch nicht und legte die Vorschrift im Jahre 2006 dem BVerfG vor (Az. XI R 26/04, BStBl. 2007 S. 167 = DB 2006 S. 2439). Das höchste deutsche Steuergericht war der Ansicht, dass der Gesetzgeber den Grundsatz der Normenklarheit verletzt habe, da sich aus Sicht des Steuerpflichtigen Tatbestand und Rechtsfolge des § 2 Abs. 3 EStG nicht mehr erschließen lasse.

Die Fachwelt hatte wohl nicht ganz unbegründet viel Hoffnung in dieses Vorlageverfahren gesetzt. Noch auf dem Münsteraner Symposion zum Thema Steuerrecht und Verfassungsrecht im Jahre 2009 nannte der Präsident des BFH § 2 Abs. 3 EStG als „Extrembeispiel“, als „Paradebeispiel einer Norm, die den Ansprüchen der Normenklarheit meiner Auffassung nach nicht entspricht.“ Zudem hat das BVerfG selbst diese Hoffnung immer wieder genährt, indem es mehrfach den Satz aufgestellt hat: „Für alle Abgaben gilt als allgemeiner Grundsatz, dass abgabebegründende Tatbestände so bestimmt sein müssen, dass der Abgabepflichtige die auf ihn entfallende Abgabe – in gewissem Umfang vorausberechnen kann.“ (So z. B. BVerfGE 108 S. 136 [235])

Konsequenzen hatte dieses Postulat im Steuerrecht nie. Und auch jetzt, da es um ein Extrembeispiel sprachlicher Kompliziertheit ging, ließ das BVerfG den schönen Worten keine Taten folgen. Es wies die Vorlage des BFH als unzulässig zurück. Die Begründung lautet – etwas salopp gesagt: der BFH hätte sich mehr anstrengen müssen. Er habe die denkbaren Auslegungsmöglichkeiten nicht ausreichend untersucht und nicht schlüssig dargelegt, warum die Auslegungsprobleme nicht mit den Mitteln herkömmlicher Methodik zu bewältigen seien.

Es ging zwar „nur“ um ausgelaufenes Recht. Aber es wurde eine Chance vertan, den Gesetzgeber endlich zur Umkehr zu zwingen und ihn an seine vornehmste Pflicht zu erinnern, dass die Gesetze, die er erlässt, von den Normadressaten verstanden werden müssen. Die Hoffnung auf ein einfaches und verständliches Steuerrecht hat mit dieser Entscheidung des BVerfG einen deutlichen Dämpfer bekommen.

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