Der auf dem Gebiet der Umsatzsteuer in den vergangenen vierzig Jahren seit ihrer gemeinschaftsweiten Harmonisierung aufgelaufene Reformstau ist gravierend: Das EU-Mehrwertsteuersystem stammt in seinen Grundzügen aus einer Zeit, in der Globalisierung und „e-commerce“ noch unbekannt und ein grenzüberschreitender Dienstleistungshandel praktisch inexistent waren. Das leidige Thema Karussellbetrug stand wegen des steuerlichen Grenzausgleichs auch innerhalb der EWG nicht zur Debatte.
Diese Rahmenbedingungen stellen sich seit der Verwirklichung eines Binnenmarktes ohne Grenzkontrollen und vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich erfolgten wirtschaftlichen Entwicklungen und technologischen Umwälzungen dramatisch verändert dar. Zudem krankt das gegenwärtige System immer noch daran, dass um der Erzielung von Kompromissen willen fiskalischen Erwägungen häufig klar der Vorzug vor einer folgerichtigen Ausgestaltung des Steuertatbestands eingeräumt wurde. Wenig überraschend wird daher mittlerweile die EU-Mehrwertsteuer international als ein unmodernes MwSt-System angesehen. Anfang Dezember letzten Jahres hat die EU-Kommission reagiert und ein sog. Grünbuch über die Zukunft der Mehrwertsteuer vorgelegt (KOM(2010) 695 endg.). Dies gibt Anlass dazu, zentrale Reformbaustellen nachfolgend überblicksartig darzulegen.
Einer grundlegenden Umgestaltung bedarf vor allem die Besteuerung grenzüberschreitender Leistungsbeziehungen innerhalb der Union. Nach dem derzeit geltenden Besteuerungskonzept werden einerseits B2B-Umsätze beim leistenden Unternehmer anders als im Falle mitgliedstaatsinterner Umsätze grundsätzlich keiner Besteuerung unterworfen, was vor allem bei Warenlieferungen dem Karussellbetrug Vorschub leistet und zugleich die redlichen Unternehmen mit erheblichen Mitwirkungspflichten und Haftungsrisiken belastet. Zum anderen werden EU-interne Lieferungen anders als EU-interne Dienstleistungen behandelt, obwohl seit nunmehr fast zwanzig Jahren auch bei ersteren keine Grenzkontrollen mehr stattfinden und sich die Rahmenbedingungen für das Besteuerungsverfahren somit gleichen. Die Kommission stellt diesen Status quo jetzt grundsätzlich zur Disposition und macht hierzu sehr grundsätzliche Lösungsvorschläge.
Eine weitere zentrale Ursache für die Komplexität und Missbrauchsanfälligkeit des gegenwärtigen MwSt-Systems sind die zahlreichen sog. „unechten“ Steuerbefreiungen, die mit einer Versagung des Vorsteuerabzugs für den leistenden Unternehmer einhergehen. Diese streit- und gestaltungsanfällige Konzeption ist regelmäßig nicht zu rechtfertigen: Falls Aufwendungen für eine bestimmte Kategorie von Waren oder Dienstleistungen ausnahmsweise auch unabhängig von ihrem Ausmaß bzw. typischerweise in voller Höhe einen existenziellen Bedarf des Verbrauchers widerspiegeln, sind sie gänzlich von der Besteuerung zu verschonen. Bei echten Steuervergünstigungen wiederum wäre eine Steuerermäßigung mit Vorsteuerabzug die transparentere und besser zu administrierende Alternative. Gegenwärtig präsentiert sich freilich auch das Gebiet der ermäßigten Steuersätze als ein Steuerdschungel, der dringend nach Möglichkeiten des Subventionsabbaus zu durchforsten wäre. Hier ist die deutsche Regierungskoalition aufgefordert, ihre Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag einzulösen.
Auch jenseits des Grundübels der unechten Steuerbefreiungen ist das Regime der Vorsteuervergütung überarbeitungsbedürftig. Verfehlt ist insbesondere die Versagung des Vorsteuerabzugs für Aufwendungen, die ungeachtet ihres fehlenden Bezugs zu umsatzsteuerbaren Umsätzen keine private Konsumleistungsfähigkeit widerspiegeln. Exemplarisch ist insoweit die fehlende Vorsteuerentlastung reiner Finanzholdings. Besondere Reformanstrengungen sind nach wie vor auch erforderlich, um den als Steuereinsammler im Dienste des Fiskus herangezogenen Unternehmer von unverhältnismäßigen Risiken und Belastungen freizustellen. Die hierfür maßgeblichen Direktiven (namentlich das Neutralitätsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) hat der EuGH in den letzten Jahren in einer Serie von Entscheidungen zur Entfaltung gebracht; der deutsche Gesetzgeber hat daraus aber vielfach noch nicht die gebotenen Schlussfolgerungen gezogen.
Dringend vonnöten ist auch eine bessere Abstimmung von Umsatzsteuer einerseits und besonderen Verbrauch-, Aufwand- und Verkehrsteuern andererseits. Das Grünbuch der Kommission spricht schließlich noch eine elementares Harmonisierungsdefizit an: Die MwSt-Systemrichtline enthält immer noch zahlreiche Optionen und Ausnahmebestimmungen, die dem Ideal einer Rechtsangleichung im Binnenmarkt entgegenstehen. Sie sollten sukzessive zurückgedrängt und durch einheitliche und verbindliche Vorgaben ersetzt werden. Als Stichworte seien hier nur Organschaft und Geschäftsveräußerung im Ganzen genannt.
Fazit: Das Grünbuch gibt wertvolle Anregungen, die nun von den Mitgliedstaaten aufzugreifen wären. Dabei sollte sich insbesondere die Bundesregierung daran erinnern, dass sie in einigen Bereichen auch selbst für positive Reformimpulse verantwortlich