Am 21.2.2011 findet eine Anhörung zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung (Schwarzgeldbekämpfungsgesetz) statt. Der Bundesrat hatte in seiner Sitzung am 11.2.2011 beschlossen, eine Ergänzung des Gesetzentwurfs dahingehend zu fordern, dass auf hinterzogene Steuern ein Zuschlag von fünf Prozent zu zahlen sei, damit Straffreiheit eintreten kann (Stellungnahme des Bundesrats BR-Drs. 851/10).
Zahlreiche Experten haben bereits im Vorfeld der Anhörung ihre Meinung schriftlich geäußert. Presseberichten zufolge sollen die meisten der geladenen Experten die Einführung eines Strafzuschlags für rechtlich möglich halten, sofern er anders genannt werde. Andernfalls könne er eine Strafe und seine Erhebung bei versprochener Straffreiheit verfassungsrechtlich bedenklich sein (so sinngemäß Hulverscheidt in der Süddeutschen Zeitung vom 19./20.2.2011, S. 29).
Eine Darstellung der verfassungsrechtlichen Diskussion findet man in Abschnitt III der Stellungnahme von Loritz (Universität Bayreuth) (am 20.2.2011 geprüft). Loritz spricht (S. 5) auch kurz Art. 6 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. 11.1950 (EMRK) an, allerdings im Hinblick auf die Höhe des Zuschlags.
Da kommt es nicht ungelegen, dass das Haparanda tingsrätt (Schweden) am 27.12.2010 ein Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH eingereicht hat (Az. C-617/10). „Das Tingsrätt ist in Schweden die unterste Instanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Straf- und Zivilsachen. Es ist insoweit vergleichbar mit einem deutschen Amts- oder Landgericht“.
Das vorlegende Gericht teilt dem EuGH mit, nach schwedischem Recht müsse eine klare Stütze in der EMRK oder in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorhanden sein, damit ein nationales Gericht nationale Bestimmungen unangewendet lassen könne, von denen zu befürchten sei, dass sie gegen das Verbot der Doppelbestrafung nach Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK und damit auch gegen Art. 50 der Charta der Grundrechte der EU vom 7.12.2000 (Grundrechtecharta) verstießen.
Neben der Frage, ob eine solche nationale Bedingung mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrecht vereinbar sei, möchte das Gericht unter anderem wissen, ob die Prüfung der Zulassung der Anklage wegen eines Steuervergehens gegen das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK und Art. 50 der Grundrechtecharta verstößt, wenn in einem früheren Verwaltungsverfahren gegen den Angeklagten wegen derselben von ihm gemachten unrichtigen Angaben eine wirtschaftliche Sanktion (Steuerzuschlag) festgesetzt worden ist.
Eine solche Situation kann wohl nach dem Wortlaut des § 371 Abs. 3 AO in der vom Bundesrat geforderten Fassung nicht entstehen: „Sind Steuerverkürzungen bereits eingetreten oder Steuervorteile erlangt, so tritt für einen an der Tat Beteiligten Straffreiheit nur ein, soweit er die zu seinen Gunsten hinterzogenen Steuern nebst Zuschlag in Höhe von fünf Prozent auf die hinterzogenen Steuern innerhalb der ihm bestimmten angemessenen Frist entrichtet“. Das heißt zum einen, dass eine Anklage nicht zugelassen werden dürfte, wenn und soweit Täter oder Beteiligte die Steuern und den Zuschlag bezahlt haben, also Straffreiheit eintritt. Immerhin hält das schwedische Gericht nicht erst die Verurteilung, sondern bereits die Zulassung der Anklage für eine mögliche Doppelbestrafung.
Zum anderen heißt das aber auch, dass sich der reuige Täter seine Straffreiheit regelrecht erkaufen muss. Auch wenn alle hinterzogenen Steuern bezahlt wurden, bleibt die Strafbarkeit bestehen, wenn der Zuschlag nicht geleistet wird. Dieser Ablasshandel moderner Art, überzogen formuliert eine staatliche Erpressung, könnte unter Umständen gegen die Grundrechtecharta und vielleicht auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen.
Natürlich ist derzeit völlig offen, ob und wie der EuGH die Vorlagefragen beantwortet. Es gibt aber schon Entscheidungen, in denen der Gerichtshof Fragen der EMRK prüft, zum Beispiel im Urteil vom 20.3.2002 in der Rechtssache T-17/99 KE KELIT Kunststoffwerk GmbH, in dem es um kartellrechtliche Geldbußen ging. Die Randnummer 111 der Entscheidung lautet: “Zwar sind nach Art. 15 Abs. 4 der Verordnung Nr. 17 Entscheidungen der Kommission, mit denen wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht Geldbußen festgesetzt werden, nicht strafrechtlicher Art (Urteil Tetra Pak/Kommission, Rdn. 235); gleichwohl muss die Kommission in jedem Verwaltungsverfahren, das in Anwendung der Wettbewerbsregeln des Vertrages zu Sanktionen führen kann, die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere das Rückwirkungsverbot beachten (vgl. analog dazu Urteil Michelin/Kommission, Rdn. 7).“ Mit anderen Worten: Es ist nicht auszuschließen, dass der EuGH auch eine verwaltungsrechtliche Sanktion am Maßstab der europäischen Grundrechte misst.
Unabhängig davon, ob er auf die schwedische Vorlage antworten sollte, dass die Zulassung der Anklage eine verbotene Doppelbestrafung sei, oder dies verneint – die Ausführungen zum Verhältnis von verwaltungsrechtlicher Sanktion zu Unions-Grundrechten könnten auf jeden Fall Einfluss auf die Bewertung des vorgeschlagenen Straffreiheits-Zuschlags haben. Sie könnten nach Einführung der Regelung auch deutsche Gerichte oder Betroffene dazu veranlassen, die EU-Konformität durch den EuGH oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überprüfen zu lassen. Es ist bekannt, dass Deutschland in letzter Zeit kein allzu gutes Bild vor dem EGMR abgegeben hat, insbesondere bei der Sicherungsverwahrung.
Unter diesen Umständen wäre es klüger, den Straffreiheits-Zuschlag nicht überhastet einzuführen und dann möglicherweise bald wieder streichen zu müssen, sondern erst einmal abzuwarten, wie der EuGH das Vorabentscheidungsersuchen aus Schweden beantwortet.