Wo beginnt der Gestaltungsmissbrauch?

Zwischen Steuerbürger und Finanzverwaltung besteht ein natürlicher Interessengegensatz: Der Steuerbürger darf, kann und will seine Erwerbssphäre so gestalten, dass er möglichst wenig Steuern zahlt und die Finanzverwaltung soll, muss und will ein möglichst hohes Steueraufkommen generieren. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu wissen, wo die Grenzen der steuerlichen Gestaltung liegen bzw. wo der Gestaltungsmissbrauch nach § 42 AO beginnt.

Über die Grenzziehung entscheidet in letzter Instanz der BFH – und zwar häufig gegen die Finanzverwaltung und zugunsten des Steuerpflichtigen. Auf dieser Linie liegt auch das jüngste Urteil vom 7. 12. 2010 (IX R 40/09, DB 2011 S. 506, DB0406686). Im Streitfall hatte eine GmbH u. a. im Streitjahr 2001 mit Aktien am Neuen Markt gehandelt und schließlich aufgrund der negativen Börsenentwicklung erhebliche Vermögensminderungen hinnehmen müssen. Vor diesem Hintergrund veräußerten sechs der sieben Gesellschafter der GmbH – darunter der Kläger – ihre jeweilige Beteiligung i.S. des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG 2001 ringweise an einen Mitgesellschafter und erwarben zeitgleich wieder eine Beteiligung in gleicher Höhe von einem jeweils anderen Mitgesellschafter. Die durch den Kläger steuerlich geltend gemachten Verluste aus der Veräußerung der GmbH-Beteiligung erkannten weder das Finanzamt noch das vorinstanzliche FG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 5. 2. 2009 – 4 K 1078/05, EFG 2010 S. 99) wegen Gestaltungsmissbrauchs gemäß § 42 AO an.

Anders hingegen der BFH, der in den ringweisen Anteilsveräußerungen und -erwerben in concreto keinen Gestaltungsmissbrauch nach § 42 AO erblickte. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Gerichts liegt ein solcher nur dann vor, wenn eine rechtliche Gestaltung gewählt wird, die – gemessen an dem erstrebten Ziel – unangemessen ist, der Steuerminderung dienen soll und durch wirtschaftliche oder sonst beachtliche nichtsteuerliche Gründe nicht zu rechtfertigen ist. Insbesondere führt das Motiv der Steuerersparnis noch keine Unangemessenheit einer Gestaltung herbei. Vielmehr ist eine rechtliche Gestaltung erst dann als unangemessen anzusehen, wenn der Steuerpflichtige die vom Gesetzgeber vorausgesetzte Gestaltung zum Erreichen eines bestimmten wirtschaftlichen Ziels nicht gebraucht, sondern dafür einen ungewöhnlichen Weg wählt, auf dem nach den Wertungen des Gesetzgebers das Ziel nicht erreichbar sein soll. Nach diesen Maßgaben war im Streitfall eine Unangemessenheit zu verneinen. Zwar lag das Motiv der Beteiligungsveräußerung in der steuerlichen Verlustberücksichtigung begründet. Diese stand jedoch sowohl im Einklang mit § 17 EStG als auch mit dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und folgte damit gesetzgeberisch vorgegeben Wertungen. Außersteuerlicher Motive als Rechtfertigung für die qua Veräußerung erfolgende Verlustrealisierung bedurfte es mithin nicht.

Zu einem Rechtsmissbrauch kommt es auch nicht dadurch, dass die Anteilsveräußerung mit dem Erwerb anderer Anteile des gleichen Umfangs von Mitgesellschaftern zeitlich zusammenfällt. Veräußerung und Erwerb heben sich nämlich – was wiederum rechtsmissbräuchlich sein könnte – gerade nicht auf, sondern ergänzen sich gegenseitig. Denn in die spätere Ermittlung eines aus einer neuerlichen Veräußerung erzielten Ergebnisses fließen die nunmehr niedrigeren Anschaffungskosten mit ein.

Die Entscheidung zeigt: Der BFH gibt sich bei der Frage nach dem Vorliegen eines Gestaltungsmissbrauchs i.S. des § 42 AO äußerst zurückhaltend, während die Finanzverwaltung bereits bei einer überwiegend steuerlichen Motivation der Gestaltung zu einem solchen tendiert. Dabei negiert sie die durch den Gesetzgeber etwa für die Fälle von Beteiligungen und Wertpapieren eröffneten Möglichkeiten zur Verlustberücksichtigung, die außersteuerliche Motive für die Verlustrealisierung grundsätzlich entbehrlich werden lassen. Dies sollte auch de lege lata gelten (das Streitjahr betraf § 42 AO in seiner alten Fassung), da die mit dem Jahressteuergesetz 2008 in § 42 AO eingefügte Missbrauchsdefinition im Wesentlichen die Standardformel der BFH-Rechtsprechung umgesetzt hat.

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