Gesetzesnormen haben zumeist eine sogenannte „Wenn-Dann-Struktur“: wenn x (der Tatbestand) eintritt, so gilt y (die Rechtsfolge). Besonderes Augenmerk wird daher immer auf die Prüfung des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzung gelegt. Denn liegt sie nicht vor, tritt auch nicht die Rechtsfolge ein.
Nun hatte sich der BFH mit der Prüfung eines solchen Tatbestands in Zusammenhang mit der Besteuerung von Stiftungen auseinanderzusetzen. Worum geht es? Zuwendungen von Familienstiftungen an Familienangehörige sollen gem. § 20 Abs. 1 Nr. 9 des Einkommensteuergesetzes dann mit den Rechtsfolgen der „Einkünfte aus Kapitalvermögen“ belegt werden, wenn sie wirtschaftlich mit Dividenden vergleichbar sind. Trotz dieser einschränkenden Tatbestandsvoraussetzung wollte der deutsche Steuergesetzgeber dabei den Regelfall solcher Zuwendungen erfasst sehen.
Allerdings: wirtschaftlich vergleichbar sind Zuwendungen von Stiftungen mit Dividenden, wie sie Kapitalgesellschaften leisten, nie! Denn dem Wesen der Stiftung wohnt das Fehlen von Mitgliedern inne (das Stiftungsvermögen gehört nur der Stiftung selbst), womit klar ist, dass Zuwendungen von Stiftungen nicht wie bei Dividenden auf einer vermögensmäßigen Beteiligung beruhen. Wirtschaftliche Vergleichbarkeit müsste also abzulehnen sein, der Gesetzgeber hätte sein Ziel verfehlt. Dies sah in einem konkret vorliegenden Fall das FG Brandenburg so, es legte dem BFH den Fall zur Revision vor und dieser entschied: weil in der Gesetzesbegründung steht, dass der Gesetzgeber Stiftungszuwendungen mit Dividenden für wirtschaftlich vergleichbar hält, muss § 20 Abs. 1 Nr. 9 EStG so ausgelegt werden, dass sie es für Zwecke der Vorschrift auch sind.
Ist dem BFH also jetzt zu danken, dass er unter Verwendung des juristischen Arguments, eine Norm nach dem „Willen des Gesetzgebers“ auszulegen, diesen gesetzgeberischen Willen rettet? Ja und Nein. Unser höchstes deutsches Finanzgericht schafft mit diesem Urteil Rechtssicherheit in einer zuvor zweifelhaften Frage. Andererseits rettet der BFH die Vorschrift hier aber nur auf Kosten der bereits ohnehin schon so sehr in Mitleidenschaft gezogenen Systematik im deutschen Steuerrecht. Denn Zuwendungen von Stiftungen sind niemals mit Dividenden wirtschaftlich vergleichbar egal, wie sehr sich der Gesetzgeber in Gesetzesbegründungen auch abstrampeln mag, genau das Gegenteil zu behaupten.
Kessler übergeht die wirtschaftliche Betrachtung, die das Gesetz fordert, und die wirtschaftliche Betrachtungsweise als anerkannten Auslegungsansatz im Steuerrecht. Er argumentiert rein formal und das gegen den Gesetzestext. Das ist rechtsmethodisch nicht haltbar. Einzelheiten unter: http://www.stiftungsrecht-plus.de (Kommmentar vom 08.06.2011).