Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). „Gehör“ heißt, der Prozessbeteiligte muss dort seine Ausführungen machen können, tut er das mündlich, muss der Richter auch zuhören. „Hören“ heißt Zur-Kenntnis-Nehmen, das setzt ein Zu-Wort-Kommen voraus, „um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können“ (BVerfGE 86 S. 133 [144]). Aber wann hört der Richter zu? Oder anders ausgedrückt: Wann kann man davon ausgehen, dass er nicht zuhört? Sind geschlossene Augen ein Zeichen der Konzentration auf das gesprochene Wort oder ein Zeichen des Abtauchens in eine Schlummerphase?
Die Rechtsprechung behandelt das Problem des schlafenden Richters in seltener Einmütigkeit nicht aus dem Blickwinkel der Gewährung des rechtlichen Gehörs, sondern der ordnungsgemäßen Besetzung des Gerichts. Ein Gericht ist sei nicht vorschriftsmäßig besetzt, so der BFH im jüngst veröffentlichten Beschluss vom 17. 2. 2011 (IV B 108/09) und in ständiger Rechtsprechung auch schon zuvor, wenn ein Richter während der mündlichen Verhandlung einschlafe und deshalb wesentlichen Vorgängen nicht folgen könne. Kein Wort über die Verletzung des rechtlichen Gehörs.
Der „schlafende Richter“ hat nicht nur die finanzgerichtliche Rechtsprechung, aber diese jedenfalls immer wieder beschäftigt. Mündliche Verhandlungen können ermüdend sein, im Steuerrecht vielleicht ermüdender als in anderen Rechtsgebieten. Da verwundert es nicht, dass die Laienrichter in der ersten Instanz schon mal vom Schlaf übermannt werden können; und in der Tat drehen sich die einschlägigen Entscheidungen regelmäßig um deren Wachzustand. Schläft der Richter wirklich ein, so berechtigt dies zur Verfahrensrüge und eröffnet die Revision zum BFH (§ 119 Abs. 1 Nr. 1 FGO).
Aber hier liegt das Problem: Wie kann der Prozessbeteiligte wissen, ob der Richter, der die Augen geschlossen hält, wirklich eingeschlafen ist? Der BFH fordert „sichere Anzeichen“ wie Schnarchen oder das Herunterfallen des Kopfes. Macht der Prozessbeteiligte nur geltend, dass der Richter während der mündlichen Verhandlung immer wieder mit geschlossenen Augen da saß, so genügt das nicht. „Denn“, so der BFH, „ein Richter kann dem Vortrag während der mündlichen Verhandlung auch mit (vorübergehend) geschlossenen Augen und geneigtem Kopf folgen. Deshalb muss derjenige, der sich darauf beruft, ein Gericht sei wegen eines in der mündlichen Verhandlung eingeschlafenen Richters nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen, konkrete Tatsachen vortragen, welche eine Konzentration des Richters auf wesentliche Vorgänge in der mündlichen Verhandlung ausschließen.“
Aber welche konkreten Tatsachen soll man denn vortragen, wenn man nur die geschlossenen Augen und den geneigten Kopf sieht? Hier gibt die Entscheidung des BFH vom 16. 9. 2009 (X B 202/08) wenig ermutigenden Aufschluss. Der Kläger trug in seiner Nichtzulassungsbeschwerde vor, der ehrenamtliche Richter habe von der gesamten mündlichen Verhandlung nichts mitbekommen. Es sei ihm der Kopf auf die Brust gefallen, er sei körperlich zusammengesackt, habe sich nach dem Aufwachen ruckartig aufgerichtet und schamhaft mit ausdruckslosem verschlafenen Gesicht geradeaus geblickt, ohne sich dem Geschehen zuzuwenden. Dem BFH genügte das noch nicht, um einen Verfahrensfehler zu bejahen. Vielmehr könne, so der BFH, erst dann vom Einschlafen des Richters ausgegangen werden, wenn weitere „sichere Anzeichen“ hinzukommen, wie beispielsweise tiefes, hörbares und gleichmäßiges Atmen oder gar Schnarchen oder Anzeichen von fehlender Orientierung (BFH vom 17. 5. 1999 – VIII R 17/99, BFH/NV 1999 S. 1491).
Aber selbst wer meint, er habe den Beweis, wenn er ruckartiges Aufschrecken aus dem Schlaf wahrnimmt, wird durch den BFH (vom 16. 8. 2005 – XI B 234/03) eines Besseren belehrt: Ein Absacken des Kopfes nach hinten und eine ruckartige Bewegung nach vorn ließen nur „darauf schließen, dass es sich allenfalls um einen Sekundenschlaf gehandelt haben kann, der die geistige Aufnahme des wesentlichen Inhalts der Beweisanträge nicht beeinträchtigt haben kann.“ Eine sich daran anschließende langsame Bewegung des Kopfes nach hinten sei ebenfalls kein ausreichendes Indiz dafür, dass der Richter geschlafen habe oder sonst geistig abwesend gewesen sei (BFH vom 20. 9. 2000 – VII R 61/00, BFH/NV 2001 S. 324).
Im jüngst entschiedenen Fall (IV B 108/09) hatte der „nur äußerlich“ eingeschlafene beisitzende Richter in einer dienstlichen Erklärung bestritten, eingeschlafen zu sein. Vielmehr habe er die Augen nur geschlossen, um die Sache zu überdenken. Denn die vielen Argumente des Prozessbevollmächtigten hätten es erfordert, „dass er einmal gründlich über die Sache habe nachdenken müssen.“
Der BFH hielt diese Einlassung für plausibel. Es scheint also, als sei gegen den „schlafenden Richter“ kein Kraut gewachsen zu sein. Dirk Fabrizius befasste sich in seiner Habilitationsschrift (Selbst-Gerechtigkeit, 1996, S. 72) ausführlich mit dem uralten Phänomen, das auch durch die Weltliteratur geistert, und meint: Wenn es eine Tatsache sei, dass Richter müde und schläfrig würden und wenn diese Tatsache nicht zu ändern sei, „nicht durch Zwang, Strafe, gutes Zureden, Lob und was einem sonst noch einfallen könnte, so ist es vielleicht schon hilfreich, nicht so zu tun, als ob es diese Tatsachen nicht gäbe“.