Die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz – Erststudium und beruflicher Aufwand? –

Die rechtsprechende Gewalt ist nach dem Grundgesetz an das Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Deshalb bleiben der Rechtsprechung, die sich vom Gesetzeswortlaut lösen will, nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie hält die Vorschrift für verfassungswidrig und legt sie dem BVerfG nach Art. 100 GG vor, oder sie legt die Vorschrift „gegen den Wortlaut“ aus und gibt ihr einen Sinn, der ihr nach der Gesetzesfassung  und  nach dem Willen des Gesetzgebers nicht zukommt. Der zweite Weg ist ganz offensichtlich höchst fragwürdig, da er unter Umgehung des BVerfG die verfassungsrechtlich festgeschriebene Gesetzesbindung negiert und dadurch in die Gefahrenzone einer verfassungswidrigen Spruchpraxis gerät. Dennoch hat ihn der 6. Senat des BFH jüngst eingeschlagen, als er die Kosten für ein Erststudium für abzugsfähig erklärte (BFH-Urteil vom 28. 7. 2011 – VI R 38/10, DB0427278 und VI R  7/10, DB 2011 S. 1836). Man kann nur darüber rätseln, warum sich der 6. Senat des BFH auf diesen zweifelhaften Pfad begeben hat.

Jahrzehntelang hat die Rechtsprechung zwischen Berufsausbildungskosten und Berufsfortbildungskosten unterschieden und nur Fortbildungskosten als Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten anerkannt. Das zentrale Argument war, dass der Veranlassungszusammenhang zwischen Ausbildung, also z. B. einem Erststudium, und dem späteren Beruf noch nicht konkret oder, wie der RFH (Urteil vom 24. 6. 1937 – IV A 20/36, RStBl. 1937 S. 1089) es formulierte, noch nicht „eng“ genug sei, um eine Veranlassung mit der späteren Erwerbstätigkeit zu begründen. Die mit der Ausbildung zusammenhängenden Kosten wurden deshalb grundsätzlich der allgemeinen Lebensführung zugerechnet.

Im Jahr 2002 hat der BFH diese gefestigte Rechtsprechung aufgegeben und den Veranlassungszusammenhang der Kosten eines (berufsbegleitenden) Erststudiums mit der angestrebten beruflichen Tätigkeit bejaht (BFH vom 17. 12. 2002 – VI R 137/01, BStBl. 2003 S. 407 = DB 2003 S. 127). Der Gesetzgeber hat daraufhin 2004 in § 12 Nr. 5 EStG die ursprüngliche Rechtslage wieder hergestellt. Die Vorschrift lautet: „Soweit in … § 10 Abs. 1 Nr. 7 … nichts anderes bestimmt ist, dürfen weder bei den einzelnen Einkunftsarten noch vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen werden … Nr. 5 Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung und für ein Erststudium …“  Die Vorschrift war eine Reaktion auf die Rechtsprechungsänderung und sollte ausweislich der Gesetzesbegründung zur Vermeidung von Steuerausfällen in einer geschätzten Größenordnung von 1,5 Milliarden EUR ein Abzugsverbot für die genannten Aufwendungen statuieren.

Nun hat der BFH in zwei Entscheidungen (vom 28. 7. 2011 – VI R 38/10, DB0427278 und VI R  7/10, DB 2011 S. 1836) den Gesetzgeber korrigiert und Ausgaben für das Erststudium als abzugsfähig erklärt. Aber – so wird man fragen – der Gesetzgeber hat doch eindeutig geregelt, dass Kosten für das Erststudium nicht abzugsfähig sind. Steht der BFH über dem Gesetzgeber?

Natürlich nicht. Vielmehr versucht der BFH, sich argumentativ aus der Gesetzesbindung zu befreien. Aber der Versuch misslingt. Der BFH argumentiert so: Da § 12 Nr. 5 EStG unter dem Vorbehalt einer anderweitigen Regelung in § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG stehe, müsse zunächst geprüft werden, ob dieser Vorbehalt eingreife. Nach  § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG seien Aufwendungen für den Steuerpflichtigen für seine Berufsausbildung nur dann Sonderausgaben, „wenn sie weder Betriebsausgaben noch Werbungskosten sind“. Bei Aufwendungen für das Erststudium handle es sich aber um (vorweggenommene) Betriebsausgaben/Werbungskosten, deshalb gelte der Vorrang des Betriebsausgaben-/Werbungskostenabzugs, die Einschränkung in § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG laufe leer. Dieser Vorrang sei auch auf § 12 Nr. 5 EStG zu beziehen, denn wenn die Einschränkung des Sonderausgabenabzugs leerlaufe, müsse dies wegen des Einleitungssatzes in § 12 EStG auch für diese Vorschrift gelten.

Diese Argumentation ist spitzfindig und kann nicht überzeugen. Denn selbst wenn man unterstellt, der Gesetzgeber habe mit einer rechtstechnisch fehlplatzierten Regelung in § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG den Betriebsausgaben-/Werbungskostenabzug nicht einschränken können, bleibt es dennoch beim Abzugsverbot des § 12 Nr. 5 EStG. Der Sinn, den der BFH dieser Vorschrift unterlegt, ist ganz offensichtlich konträr zum gesetzgeberischen Willen und für den „normalen Leser“  auch aus dem Wortlaut des Gesetzes nicht zu entnehmen. Deshalb lösen die beiden Entscheidungen des BFH, so sehr sie aus der Perspektive des objektiven Nettoprinzips zu begrüßen sein mögen,  das ungute Gefühl aus, das Gericht habe unter Umgehung des steinigen Wegs einer Richtervorlage den Wortlaut kurzerhand für unbeachtlich erklärt und sich in verfassungsrechtlich nicht zulässiger Weise aus der Gesetzesbindung befreit.

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