Rechtsbehelfe gegen Steuerbescheide haben bekanntlich keine aufschiebende Wirkung, d. h. der Steuerpflichtige muss trotz Einlegung des Einspruchs bzw. Erhebung der Klage die festgesetzte Steuer entrichten (§ 361 Abs. 1 AO). Er hat allerdings die Möglichkeit, Aussetzung der Vollziehung (AdV) zu beantragen (§ 361 Abs. 2 AO). Macht er von diesem Recht Gebrauch und gibt die Behörde dem Antrag statt, dann geht er jedoch das Risiko der Verzinsung ein: Dringt er nämlich mit seinem Rechtsbehelf nicht durch, so ist der geschuldete Betrag vom Tag der Einlegung des ausgesetzten Rechtsbehelfs mit einem halben Prozent pro Monat, also mit 6% pro Jahr zu verzinsen (§§ 237, 238 AO). Diese Zinspflicht mit einem Zinssatz, der erheblich über dem Marktzins liegt, tritt aber im umgekehrten Fall auch ein: Wurde keine Aussetzung der Vollziehung gewährt, hat aber der Steuerpflichtige mit seinem Rechtsbehelf Erfolg gehabt, so hat die Finanzbehörde nach § 236 AO Prozesszinsen auf die Steuererstattungsbeträge zu leisten. Der Zinssatz beträgt ebenfalls 6 %.
Der hohe Zinssatz lässt die Finanzbehörde in Fällen einer gewissen Größenordnung darüber nachdenken, dem Steuerpflichtigen die AdV aufzudrängen, um den Zinsnachteilen zu entgehen. Denn wenn der Streit beispielsweise um 100.000 € Steuerschuld geht, deren Rechtmäßigkeit der Steuerpflichtige mit guten Gründen bezweifelt, dann hat die Finanzbehörde im Falle des Erfolgs der Klage bei dreijähriger Verfahrensdauer (was keine Seltenheit ist) dem Steuerpflichtigen neben der entrichteten Steuer 18.000 € Zinsen zu bezahlen. Es gibt kaum eine Finanzanlage, die für den Steuerpflichtigen günstiger ist. Warum sollte der Steuerpflichtige in solchen Fällen AdV beantragen, wenn der Erstattungszinssatz den Marktzinssatz um etwa die Hälfte übersteigt? Am Markt kann er die 100.000 € Steuer für 9.000 € Zinsen finanzieren, während er im Falle des Misserfolgs 18.000 € Aussetzungszinsen zahlen muss.
Darf die Finanzbehörde zur Vermeidung des Zinsrisikos die Vollziehung des Steuerbescheids aussetzen, auch wenn kein Antrag des Steuerpflichtigen vorliegt? Der Wortlaut des § 361 Abs. 2 AO könnte dies zunächst nahe legen. Dort heißt es nämlich nur, dass die Behörde die Vollziehung aussetzen kann, ein Antrag wird nicht vorausgesetzt. Erst im Satz 2 wird geregelt, dass die Aussetzung auf Antrag erfolgen soll, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Heißt dies, dass die Finanzverwaltung dem Steuerpflichtigen die AdV aufzwingen darf, nur weil sie das Zinsrisiko scheut?
Mit dieser Frage beschäftigt sich derzeit der BFH (I R 91/10) in einer Revision gegen das Urteil des FG Köln vom 8. 9. 2010 (13 K 960/08), in dem das Gericht eine dem Steuerpflichtigen aufgezwungene Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung als ermessensfehlerhaft ansah, „wenn nicht besondere Gründe ausnahmsweise die Finanzbehörde berechtigen, die tendenziell auf den Rechtsschutz des Bürgers ausgerichtete Aussetzung der Vollziehung in objektiv belastender Weise gegen den Willen des Bürgers einzusetzen.“ Zwar ergebe sich aus § 361 Abs. 2 Satz 1 AO nicht, nach welchen Gesichtspunkten die Finanzbehörde ihr Ermessen bei der Anordnung der Aussetzung der Vollziehung auszuüben hat. Aus dem Kontext dieser Bestimmung im Abschnitt über den außergerichtlichen Rechtsschutz ergebe sich jedoch, dass AdV im „wohlverstandenen Interesse des Steuerpflichtigen“ und damit nicht gegen dessen ausdrücklichen Willen angeordnet werden dürfe. Das FG Köln zieht damit dem Ermessen der Finanzbehörde klare Grenzen und begründet seine Auslegung auch mit verfassungsrechtlichen Argumenten. Die Aussetzung der Vollziehung diene dem von Art. 19 Abs. 4 GG geforderten effektiven Rechtsschutz, nicht dem Schutz der finanziellen Interessen des Staates. Diese zur Richtschnur der Ermessensausübung zu machen, laufe dem Zweck des § 361 Abs. 2 AO zuwider.
Die Entscheidung des FG Köln überzeugt, und es wäre erstaunlich, wenn der BFH hier eine andere Position vertreten würde. Denn unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes kann eine aufgezwungene AdV kontraproduktiv sein, nämlich in den Fällen, in denen der Steuerpflichtige wegen des hohen Zinsrisikos sich scheut, ins Klageverfahren zu gehen. 6% Zinsen sind eben in Zeiten wie diesen für beiden Seiten schmerzhaft, und es kann nicht angehen, das Risiko hoher Zinszahlungen bei ungewissem Prozessausgang (welcher ist das nicht?) einseitig auf den Steuerpflichtigen abzuwälzen. Ist die Finanzverwaltung in Fällen mit hohem Streitwert nicht bereit, das Zinsrisiko zu übernehmen, dann muss der Gesetzgeber eben die Zinshöhe den Marktbedingungen anpassen. Das gilt aber dann natürlich für beide Seiten. Aussetzungszinsen sind jedenfalls kein geeignetes Instrument, den öffentlichen Haushalt durch aufgezwungene AdV aufzubessern.