Kaum eine Betriebsprüfung bei kleinen, mittleren oder großen Gewerbetreibenden endet ohne intensive Diskussion über Rückstellungsthemen. Die Finanzverwaltung vermutet wegen des rückstellungsimmanenten Unsicherheitsmoments steuerminderndes Gestaltungspotenzial, welches sachgerecht „zurückgeschnitten“ werden soll. Entsprechend „begehrt“ sind einschlägige Erkenntnisse des BFH, die von Unternehmen, Beratern und Finanzverwaltung stets subtil und zeitnah für zurückliegende oder anstehende bilanzielle Vorsorgezwecke ausgewertet werden.
Wichtige neue Rückstellungsurteile
Im abgelaufenen 2. Halbjahr 2011 sind mehrere hochinteressante Rückstellungsjudikate des BFH ergangen. Drei unterschiedliche Senate beim BFH haben judiziert (I., IV. und X. Senat), wobei durchaus unterschiedliche Akzentuierungen deutlich werden. Revolutionäre neue Erkenntnisse enthalten die Urteile nicht, allerdings werden voneinander abweichende Rückstellungsformeln verwendet. Betroffen sind vertragliche oder öffentlich-rechtliche Verbindlichkeitsrückstellungen der Pharma-, Versicherungs- und KFZ-Branche.
Chronologisch sind zu nennen: Zum Ersten das BFH-Urteil vom 19. 7. 2011 – X R 26/10 (DB0459986), in welchem ‑ versehen mit opulenten zehn Leitsätzen – eine Rückstellung für die Verpflichtung zur Nachbetreuung von Versicherungsverträgen für eine Agentur nach Maßgabe einer vertragsbezogenen Zeitaufwandsschätzung anerkannt wird. Das BMF war dem Verfahren beigetreten; dies unterstreicht die Bedeutung des Falls. Das zweite Judikat datiert auf den 8. 9. 2011 – IV R 5/09 (DB0462136) und erlaubt eine öffentlich-rechtlich begründete Rückstellungsbildung für Zulassungskosten eines neu entwickelten Pflanzenschutzmittels; auch nicht aktivierbare Herstellungskosten eines immateriellen Wirtschaftsguts sind rückstellungsfähig. Schließlich ist das BFH-Urteil vom 21. 9. 2011 ‑ I R 50/10 (DB0463501) zu nennen, in welchem bei einem KFZ-Vermieter Rückstellungen für Mietrückzahlungen an den Mieter wegen auszukehrenden Veräußerungserlöses anerkannt werden.
Aus Sicht der betroffenen Unternehmen handelt es sich pauschal betrachtet um erfreuliche Urteile, obgleich alle drei Fälle zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an die Instanzengerichte zurückverwiesen wurden und vor allem das Nachbetreuungsurteil manche Anerkennungshürde im Detail beinhaltet. Stets muss die bestehende rechtliche Verpflichtungsstruktur für die Rückstellungsbildung analysiert und wirtschaftlich gewürdigt werden.
Leitmaximen der Rückstellungsbildung
Versucht man einmal, die wesentlichen rückstellungsrelevanten Kernaussagen der Rechtsprechung zusammenzufassen, die sich auf Grund und Höhe der Verpflichtungsabbildung beziehen, so ergibt sich:
- Rückstellungen für vertragliche Erfüllungsrückstände, schuldrechtliche Vorleistungen oder konkretisierte öffentlich-rechtliche Verpflichtungen setzen einen stichtagsrelevanten wirtschaftlichen Vergangenheitsbezug voraus. Dies ist Zentralkriterium der Rückstellungsbildung. Eine vor dem Bilanzstichtag realisierte Belastung kann dabei rechtlich oder „nur“ wirtschaftlich verursacht sein. Das Verhältnis der beiden Kriterien zueinander bleibt im Dissens der Senate offen, allerdings fallen rechtliche und wirtschaftliche Verursachung in vielen Fällen zusammen. Bei der Lektüre der Urteile drängt sich der Eindruck auf, der BFH relativiere die Bedeutung der wirtschaftlichen Verursachung.
Deutlich wird dies im BFH-Urteil vom 8. 9. 2011: Der IV. Senat geht bei den vor dem Stichtag entstandenen Zulassungskosten eines neu entwickelten Pflanzenschutzmittels von gleichzeitiger rechtlicher wie wirtschaftlicher Verpflichtungsverursachung vor dem Stichtag aus. Durch Stellung des Zulassungsantrags war die „im alten Jahr“ verursachte Zahlungspflicht rechtlich entstanden, hinreichend konkretisiert und zudem auch wirtschaftlich als Belastung erkennbar. Ob der Zulassungsantrag am Ende „erfolgreich“ ist, spielt für die Rückstellungsbildung keine Rolle. Auch wenn die unternehmerische Tätigkeit zum Bilanzstichtag eingestellt wird, bleibt die mit Antragstellung begründete „Kostenschuld“ bestehen. Dass gleichzeitig auch ein Bezug zu zukünftigen Erträgen besteht, ist lt. IV. Senat des BFH unerheblich.
Auch in dem KFZ-Mietrückzahlungsfall (Urteil vom 21. 9. 2011) ist die Verpflichtung zur Auskehrung der buchwertbegrenzten Veräußerungserlöse durch Abschluss des Mietvertrags in der Vergangenheit rechtlich und wirtschaftlich verursacht worden. Ein Mehrkomponentengeschäft liegt lt. I. Senat nicht vor. Vielmehr ist die Rückzahlung eine Modalität des abgeschlossenen Mietvertrags und deshalb in der Vergangenheit verursacht. Eine Drohverlustrückstellung, die steuerlich nicht wirksam würde, liegt nicht vor. Der Rückstellungsbetrag ist über den Mietvertragszeitraum anzusammeln. Im Versicherungsagenturfall schließlich ist ein Werbeaufwand für Neugeschäfte nicht rückstellungsfähig; insoweit liegt ein Zukunfts-, kein Vergangenheitsbezug vor. Der Vergangenheitsbezug muss zudem objektivierbar sein. Der BFH nimmt hier subtile Abgrenzungen zu Verpflichtungen mit zukunftsorientiertem Charakter vor. - Die Wesentlichkeit einer wirtschaftlichen Belastung ist kein steuerbilanzielles Rückstellungserfordernis. Umgekehrt bedeutet das: Auch unwesentliche wirtschaftliche Einzelbelastungen sind rückstellungsfähig. Der anderslautenden Finanzverwaltungsauffassung erteilt der X. Senat im Urteil vom 19. 7. 2011 zu Recht eine ausdrückliche Absage. Insoweit kommt auch keine Atomisierung einer Verpflichtung in Betracht. Nur unter Vereinfachungsgesichtspunkten können Wesentlichkeitsaspekte steuerrelevant sein.
- Für nichtaktivierungsfähige Herstellungskosten eines Immaterialwirtschaftsguts (§ 5 Abs. 2 EStG) ist eine Verbindlichkeitsrückstellung möglich. Nur wenn ein Aktivposten anzusetzen ist, schließt § 5 Abs. 4b Satz 1 EStG die Rückstellungsbildung aus.
- Eigenbetrieblicher Aufwand, der eine „Verpflichtung gegenüber sich selbst“ beinhaltet, ist nicht rückstellungsfähig. Demgemäß ist auch Aufwand für die eigene künftige Arbeitsleistung nicht in Rückstellungen einzubeziehen (BFH vom 19. 7. 2011, Rdn. 46).
- Die steuerbilanzielle Abzinsungspflicht für bestimmte Geld- und Sachleistungsverpflichtungen wird vom BFH trotz Bewertung mit Stichtagspreisen vollumfänglich „abgesegnet“. Deren Verfassungsmäßigkeit wurde bereits durch das BFH-Urteil vom 5. 5. 2011 (IV R 32/07 = DB0426281) bestätigt. Der Kerngedanke der Abzinsung wird vom BFH vor allem im Judikat vom 21. 9. 2011 noch einmal betont: Eine erst in Zukunft zu erfüllende Verpflichtung belastet den Schuldner typisiert betrachtet weniger, als eine sofortige Leistungspflicht. Anzahlungen und Vorausleistungen, die wegen des ansonsten möglichen Ausweises nicht realisierter Gewinne eine Abzinsung ausschließen, liegen lt. BFH im Mietrückzahlungsfall nicht vor. Völlig rechtlich ausgeleuchtet erscheint mir das Abzinsungsthema allerdings ungeachtet der BFH-Detailüberlegungen noch nicht.
- Rückstellungen müssen in Grund und Höhe konkret, spezifiziert und aussagekräftig dokumentiert werden. Angemessene Schätzungen sind dabei zulässig. Belegnachweise, Verprobungen und ähnliches, die einer Betriebsprüfung vorgelegt werden können, erscheinen ratsam. All dies liegt im „Verantwortungsbereich“ des Steuerpflichtigen. Er trägt im Zweifel die objektive Beweislast für den rückstellungsrelevanten Aufwandsabzug.
Man sieht: Rückstellungsfragen sind durchgängig besteuerungspraktisch bedeutsames Recht mit vielfältigen Schattierungen. Die richterliche Ausdifferenzierung der sachlichen und höhenmäßigen Rückstellungserfordernisse macht Fortschritte!