In etwa 80 Jahren setzten sich Finanzgerichte rund 100 Mal mit der Frage auseinander, ob der Ort der Leitung einer Gesellschaft sich an einem anderen Ort als jenem befand, den die Gesellschaft ihrer in- oder ausländischen Besteuerung zugrunde legte. In Fällen mit Auslandsbezug ging es i. d. R. darum, dass im Inland steuerpflichtige beherrschende Gesellschafter durch Zwischenschaltung von ausländischen Gesellschaften das Ziel verfolgten, eine ansonsten unstreitige inländische Besteuerung zu vermeiden oder zumindest hinauszuschieben. Dafür war Voraussetzung, dass der „Ort der Geschäftsleitung“ der ausländischen Gesellschaft tatsächlich auch im Ausland lag. Das war oft fraglich, weil
• entweder die zur Vertretung der Gesellschaft befugten Personen ihre Geschäftsführungsaufgaben überwiegend oder nur vom Inland aus wahrgenommen haben,
• und/oder inländische beherrschende Gesellschafter den Geschäftsführern dauernd direkt oder indirekt über Unterbevollmächtigte vorschrieben, wie sie die ihnen rechtlich obliegende „laufende Geschäftsführung“ auszuüben hätten; in einem solchen Fall wird von faktischer Geschäftsführung durch andere als die gesetzlichen Vertreter gesprochen.
Verwirrung und Verirrung
Die Gerichte umschreiben „laufende Geschäftsführung“, um deren Ortsbestimmung es geht, durchgängig mit „Geschäftsführungsmaßnahmen von einiger Wichtigkeit“; zumeist in einem Klammerzusatz nennen sie das „Tagesgeschäfte“. Die so umschriebene „laufende Geschäftsführung“ wird sodann regelmäßig abgegrenzt von der „Festlegung der Grundsätze der Unternehmenspolitik und der sonstigen Mitwirkung der Gesellschafter an ungewöhnlichen Maßnahmen bzw. an Entscheidungen von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung“. Unterschieden wird also zwischen Maßnahmen, die im Verantwortungsbereich der Geschäftsführer liegen, und solchen, bei denen sich die Gesellschafter eine Zustimmung vorbehalten. Letztere sind für die Ortsbestimmung der Geschäftsleitung der Gesellschaft nicht maßgeblich.
Diese Unterscheidung bereitet gelegentlich Verständnisprobleme. Schon der Begriff „Tagesgeschäfte“ wird mitunter als in einem gewissen Widerspruch stehend angesehen zu „Geschäftsführungsmaßnahmen von einiger Wichtigkeit“. Allein dies, aber auch die Abgrenzung der „Geschäftsführungsmaßnahmen von einiger Wichtigkeit“ (= laufende Geschäftsführung) einerseits von „Gesellschaftermitwirkung bei Maßnahmen bzw. Entscheidungen von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung“ (= keine laufende Geschäftsführung) andererseits führen zur Verwirrung und auch Verirrung.
Geschäftsleitung durch vertretungsberechtigte Geschäftsführer
Bei einer Kapitalgesellschaft ist für die Bestimmung des Mittelpunkts der geschäftlichen Oberleitung der Ort maßgeblich, an dem die zur Vertretung befugten Personen die ihnen obliegende laufende Geschäftsführertätigkeit entfalten. Entscheidend ist allein der Umfang der Vertretungsbefugnis. Die tatsächliche Ausübung der Geschäftsleitung setzt die Befugnis voraus, die Gesellschaft im Rechtsverkehr vertreten zu können (st. Rspr.).
Wurde eine Person weder als Geschäftsführer bestellt, wurde ihr auch sonst keine Vollmacht zur Geschäftsführung oder Prokura erteilt, „steht fest …“, so das FG Schleswig Holstein (Urteil vom 27. 2. 2002 – V 424/99, EFG 2002 S. 932; insoweit bestätigt durch BFH-Urteil vom 12. 2. 2004 – IV R 29/02, DB0064597; sog. Kfz-Leasing-Urteile), dass eine solche Person, „… schon rechtlich nicht in der Lage war, die geschäftliche Oberleitung … wahrzunehmen“. Das gilt auch dann, wenn sie in sonstiger Weise für die betreffende Gesellschaft tätig gewesen sein mag. Denn in einem solchen Fall kommt es auf die tatsächlich von der nicht vertretungsberechtigten Person „entfalteten Tätigkeiten … ebenso wenig an wie auf die Frage, welche Aufgaben im Einzelnen der geschäftlichen Oberleitung … zuzurechnen sind“.
Sind alle gesetzlich und/oder schuldrechtlich zur Vertretung einer ausländischen Kapitalgesellschaft befugten Geschäftsführer im Ausland ansässig und nehmen diese ihre Geschäftsführungsaufgaben im Ausland wahr, scheidet ein inländischer Ort der Geschäftsleitung jedenfalls dann aus, wenn es keine inländischen beherrschenden Gesellschafter gibt, die ständig durch Gesellschafteranweisungen in das Tagesgeschäft der Gesellschaft hineinre-gieren.
Ist von mehreren vertretungsberechtigten Geschäftsführern einer ausländischen Kapitalgesellschaft ein Geschäftsführer auch vom Inland aus tätig, jedoch nicht allein berechtigt, die ausländische Gesellschaft rechtswirksam zu vertreten, weil ihm selbst für Teilbereiche der Geschäftsführung keine Einzelvertretungsberechtigung eingeräumt wurde, er also nur gemeinsam mit den anderen im Ausland tätigen Geschäftsführern rechtswirksame Erklärungen abzugeben in der Lage ist, liegt ebenfalls kein Ort der Leitung im Inland vor, jedenfalls hier kein Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung. Nur ausnahmsweise könnte in einem solchen Fall ein inländischer Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung dann vorliegen, wenn dem vom Inland aus tätigen, gesetzlich bestellten Geschäftsführer der ausländischen Kapitalgesellschaft (i) Einzelvertretungsbefugnis eingeräumt wurde und (ii) die insoweit von dem im Inland tätigen Geschäftsführer allein wahrgenommenen Geschäftsleitungsmaßnahmen gewichtiger sind als diejenigen, die nur bzw. nur gemeinsam mit den ausländischen Geschäftsführern wahrgenommen werden können (anschaulich hierzu die o. g. beiden Kfz-Leasing-Urteile).
Beherrschende Gesellschafter als faktische Geschäftsführer
In Ausnahmefällen mögen beherrschende Gesellschafter durch ständige Anweisungen an die vertretungsberechtigten Geschäftsführer laufend in das Tagesgeschäft der Tochtergesellschaft eingreifen. Solche beherrschenden Gesellschafter sind dann die wirklichen Oberleiter des Unternehmens (faktische Geschäftsführer), weil sie sich nicht auf den Einfluss aus ihren Gesellschafterrechten beschränken, sondern bei wichtigen Geschäften selbst das entscheidende Wort sprechen; die gesetzlichen Vertreter verkümmern dann sozusagen zu nur ausführenden Organen (so bereits RFH 1936, RStBl. 1936 S.65).
Erteilt ein solcher beherrschender Gesellschafter seine Anweisungen vom Ausland aus, z. B. weil er nur dort ansässig und tätig ist,
• an inländische Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft mit Sitz im Inland, liegt der „Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung“ der inländischen Gesellschaft nicht im Inland, sondern im Ausland;
• an in- und/oder ausländische Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft mit Sitz im Ausland, liegt der „Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung“ dieser Gesellschaft erst recht nicht im Inland; in diesem Fall kann bei einem Auseinanderfallen von Ansässigkeitsstaat des beherrschenden Gesellschafters und Sitzstaat der ausländischen Gesellschaft dahingestellt bleiben, in welchem ausländischen Staat der Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung liegt. Hat die ausländische Gesellschaft in diesem Fall auch keine inländischen Einkünfte, scheidet eine deutsche Besteuerung gänzlich aus.
(Zitiervorschlag: Töben, Steuerboard DB0490891)