Mit der jüngst ergangenen Entscheidung des EuGH in der Rechtssache National Grid Indus BV hat die Diskussion über die deutschen Entstrickungsregelungen wieder an Fahrt gewonnen. Nachdem der BFH die finale Entnahmetheorie bzw. die Theorie der finalen Betriebsaufgabe aufgegeben hat, ist auf der Tatbestandsebene zudem fraglich, ob die u. a. mit dem SEStEG geschaffenen allgemeinen und umwandlungssteuerrechtlichen Entstrickungsregelungen nicht vielfach leer laufen. Schließlich hat der Gesetzgeber die Rechtsfolge der (ggf. abgemilderten) Sofortbesteuerung stiller Reserven allein an den Ausschluss bzw. die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts geknüpft. Insoweit ergeben sich aber nicht nur bei der grenzüberschreitenden Überführung von Wirtschaftsgütern sowie Sitz- und Betriebsverlegungen innerstaatliche und europarechtliche Zweifel an dem „ob“ und „wie“ der deutschen Entstrickungsbesteuerung. Vielmehr ist ebenso die hier zu behandelnde Hinausverschmelzung (§§ 122a ff. UmwG) einer deutschen KapGes. in das EU/EWR-Territorium problembelastet. Verstärkt wird dies durch die seitens der Finanzverwaltung (nach wie vor) unrichtigerweise vertretene Zentralfunktionsthese.
Selbst wenn diese als zutreffend erachtet wird, stellt sich für Zentralfunktionswirtschaftsgüter (insb. Beteiligungen, immaterielle Wirtschaftsgüter) im Zuge von Hinausverschmelzungen die Frage, nach welchem Entstrickungstatbestand die durch die Zuordnung der Wirtschaftsgüter zum ausländischen Stammhaus der Übernehmerin verursachte Einschränkung des deutschen Besteuerungsrechts zu sanktionieren ist.
Eine umwandlungssteuerrechtliche Entstrickung sollte für Zentralfunktionswirtschaftsgüter im Ergebnis lediglich insofern denkbar sein, als bereits mit Wirkung ab dem steuerlichen Übertragungsstichtag eine Zuordnung zu der ausländischen Geschäftsleitungsbetriebsstätte der Übernehmerin vorzunehmen ist. Denn § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UmwStG rekurriert in zeitlicher Hinsicht auf den steuerlichen Übertragungsstichtag (§ 2 Abs. 1, 3 UmwStG).
Aufgrund des Fortbestands der Überträgerin bis zur zivilrechtlichen Wirksamkeit der Verschmelzung, wird jedoch zumindest im Rückwirkungszeitraum regelmäßig eine steuerlich der Übernehmerin zuzurechnende Geschäftsleitungsbetriebsstätte im Inland vorliegen, der die Beteiligungen infolge der unveränderten Funktionsausübung zuzuordnen sind. Mithin kommt eine verschmelzungsbedingte Entstrickung nach Maßgabe des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UmwStG für Zentralfunktionswirtschaftsgüter in aller Regel (Ausnahme: reine Holdinggesellschaften) nicht in Betracht.
Die Ansicht der Finanzverwaltung hierzu wird im UmwSt-Erlass 2011 nicht vollends deutlich. Zwar soll einerseits für die Prüfung des Ausschlusses bzw. der Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts i. R. d. umwandlungssteuerlichen Entstrickungsregelungen auf die tatsächlichen Verhältnisse am steuerlichen Übertragungsstichtag abzustellen sein (Rdn. 02.15 UmwSt-Erlass 2011) und die grenzüberschreitende Verschmelzung zudem an sich keine Änderung der abkommensrechtlichen Zuordnung von Wirtschaftsgütern bewirken (Rdn. 11.09 i. V. mit Rdn. 03.20 UmwSt-Erlass 2011). Andererseits wird für die Frage einer ungeachtet dessen – wohl ausnahmsweise – eintretenden Zuordnungsänderung auf die Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze verwiesen (Rdn. 11.09 i. V. mit Rdn. 03.20 UmwSt-Erlass 2011). Somit ist nicht gänzlich auszuschließen, dass die Finanzverwaltung einen verschmelzungsbedingten Wegfall des deutschen Besteuerungsrechts für Zentralfunktionswirtschaftsgüter bereits am steuerlichen Übertragungsstichtag und damit einhergehend eine Entstrickung nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UmwStG annehmen möchte.
Wird demgegenüber eine Entstrickung am steuerlichen Übertragungsstichtag (nach Maßgabe des UmwStG) verneint, sind nachgelagert die allgemeinen Entstrickungsregelungen zu beachten. Ändert sich die Zuordnung nach dem steuerlichen Überragungsstichtag infolge der (unterstellten) Anwendung der Zentralfunktionsthese, könnte deshalb § 12 Abs. 1 KStG einschlägig sein. Als Konsequenz der jüngeren BFH-Rspr. dürfte die Tatbestandsmäßigkeit des § 12 Abs. 1 KStG – ungeachtet der Modifikation durch das JStG 2010 (Regelbeispiel) – gleichwohl mehr als fraglich sein.
Europarechtlich bestehen überdies an den deutschen Entstrickungsregelungen insoweit Zweifel, als diese grds. eine sofortige Steuererhebung im (vermeintlichen) Entstrickungszeitpunkt vorsehen. Die Grundsätze der NGI-Entscheidung sollten sowohl auf die umwandlungssteuerrechtliche Entstrickung (§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UmwStG) als auch auf die allgemeinen Entstrickungsnormen grds. anwendbar sein. Selbst bei Einschlägigkeit des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 UmwStG respektive des § 12 Abs. 1 KStG wäre eine tatsächliche Besteuerung im entsprechenden Entstrickungszeitpunkt mithin primärrechtlich äußerst problematisch.
(Zitiervorschlag: Kessler, Steuerboard DB0492004)