§ 17 EStG regelt die Steuerpflicht des Gewinns aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, die sich im Privatvermögen befinden. Voraussetzung der Steuerpflicht ist, dass die Beteiligung des Veräußerers innerhalb der letzten fünf Jahre bestimmte Wesentlichkeitsgrenzen überschritten hat. Die Beteiligungsgrenze lag bis einschließlich 1998 bei mehr als 25%. Mit Wirkung ab dem Vz. 1999 wurde sie auf mindestens 10% gesenkt, um dann ab dem Vz. 2002 erneut (auf mindestens 1%) gesenkt zu werden. Angesichts der wiederholten Verschärfungen entspricht es beinahe einer Gesetzmäßigkeit, dass die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt“ in den Übergangszeiträumen zu Streitigkeiten zwischen der Finanzverwaltung auf der einen und Stpfl. auf der anderen Seite führen musste.
Der Urteilsfall
Mit seinem Urteil vom 11. 12. 2012 (IX R 7/12, DB 2013 S. 375) hat der BFH den Streit i. S. der Stpfl. entschieden. Im Urteilsfall hielt der Kläger bis zum 28. 12. 1997 13,52% des Grundkapitals einer AG. In der Folgezeit lag seine Beteiligung unter 10%. Im Jahr 1999 verkaufte er Aktien der AG und erzielte einen Gewinn von knapp 13 Mio. DM. Das Finanzamt war zunächst der Auffassung, der Gewinn müsse voll versteuert werden, da der Kläger bis zum 28. 12. 1997 (innerhalb der letzten fünf Jahre) mit 10%, also nach der ab 1999 geltenden Begrifflichkeit „wesentlich“ beteiligt war. Es änderte seine Auffassung erst, nachdem das BVerfG mit Beschluss vom 7. 7. 2010 (2 BvR 748/05 u. a., BStBl. II 2011 S. 86 = DB0363406, „Rückwirkung im Steuerrecht II“) das BFH-Urteil vom 1. 3. 2005 (VIII R 25/02, BStBl. II 2005 S. 436 = DB 2005 S. 923) teilweise als nicht erkannt hatte. Der Urteilsfall des VIII. Senats war dem jetzt entschiedenen sehr ähnlich; der BFH hatte gestützt auf den Gesetzeswortlaut und den von ihm so gesehenen systematischen Zusammenhang zwischen § 17 Abs. 1 Satz 1 und 4 EStG eine Steuerpflicht bei einer Veräußerung einer Beteiligung von weniger als 10% ab 1999 bejaht, wenn der Veräußerer irgendwann in den vorangegangenen fünf Jahren zu mindestens 10% beteiligt war. Nach dem Beschluss des BVerfG änderte das Finanzamt den ESt-Bescheid unter Bezugnahme auf das BMF-Schreiben vom 20. 12. 2010 (IV C 6 – S 2244/10/10001 [2010/1006836], BStBl. I 2011 S. 16 = DB 2011 S. 22) und ermittelte für den Kläger einen Veräußerungsgewinn von 8,3 Mio. DM; der Wertzuwachs der Zeit bis zum 31. 3. 1999 wurde als nicht steuerbar behandelt.
Die Entscheidung
Der BFH legt den Beteiligungsbegriff des § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG veranlagungszeitraumbezogen aus. D. h., dass die Wesentlichkeit einer Beteiligung für jeden Vz. nach der in dem betreffenden Vz. geltenden Beteiligungsgrenze zu bestimmen ist. Da die Beteiligung des Klägers 1999 weniger als 10% und in den Jahren vor 1999 nicht mehr als 25% betrug, war er niemals wesentlich beteiligt.
Der IX. Senat begründet seine Entscheidung nicht mit der Entscheidung des BVerfG „Rückwirkung im Steuerrecht II“. Anders als jedenfalls Teile der Literatur meint der BFH nämlich, dass das BVerfG keine Interpretation des § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG vorgenommen, sondern allein seine Grundsätze des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes entwickelt habe. So kann der IX. Senat seine eigene Auslegung des Gesetzeswortlauts vornehmen, die übrigens zu der Wortlautinterpretation des VIII. Senats in krassem Widerspruch steht. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass das BVerfG eine andere Auslegung des Gesetzes als die jetzt vom BFH vorgenommene zumindest für möglich hielt. Sonst hätte es nicht ausführen müssen, dass ein Verfassungsverstoß vorliegt, soweit Wertsteigerungen steuerlich erfasst werden, die bis zur Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 am 31. 3. 1999 entstanden sind und die bei Veräußerung nach Verkündung des Gesetzes sowohl zum Zeitpunkt der Verkündung als auch zum Zeitpunkt der Veräußerung nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei hätten realisiert werden können.
Folgerungen
Das BFH-Urteil sollte für die verschiedenen rechtshängigen Verfahren zu der von ihm behandelten Rechtsfrage vorentscheidend sein. Das vom BFH gefundene Ergebnis ist deutlich erfreulicher als die Lösung des BMF, das den Wertzuwachs auf die in Sachen Rückwirkung problematischen und unproblematischen Zeiträume verteilen will. In Fällen, in denen es um die weitere Senkung der Wesentlichkeitsgrenze auf 1% geht, ist eine Auslegung, wie sie der BFH für die Senkung der Wesentlichkeitsgrenze auf 10% vorgenommen hat, nicht möglich. Denn mit Wirkung ab dem Vz. 2002 wurde das Tatbestandsmerkmal „innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt“ durch das leichter zu interpretierende Tatbestandsmerkmal „innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft zu mindestens 1 Prozent beteiligt“ ersetzt. In diesen Fällen helfen nur noch die Rückwirkungs-Rspr. des BVerfG und die Regelungen zur Ermittlung des steuerbaren Veräußerungsgewinns im BMF-Scheiben vom 20. 10. 2010. Letztere sind jetzt nur noch für die Senkung der Wesentlichkeitsgrenze auf 1% relevant und in Fällen, in denen aus einem später erzielten Veräußerungsgewinn der auf die Zeit vor Änderung der Wesentlichkeitsgrenze heraus gerechnet werden muss (Beispiel: Beteiligung von 5% wurde 1994 angeschafft und 2012 veräußert).