Bei Einführung der Abgeltungsteuer prognostizierte der Gesetzgeber eine drastische Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens für Einkünfte aus Kapitalvermögen. Durch die Einführung eines besonderen Steuertarifs bei gleichzeitiger Verbreitung der Bemessungsgrundlage sollte eine erhebliche steuerliche Entlastung erreicht werden. Ob diese hohen Ziele erreicht wurden, ist zweifelhaft. Solche Zweifel ruft auch die steuerliche Behandlung von Darlehen mit Angehörigen hervor.
Von dem besonderen Steuertarif für Einkünfte aus Kapitalvermögen i. H. von 25% (plus SolZ und KiSt) in § 32d EStG ordnet dessen Abs. 2 verschiedene Ausnahmen an, mit denen der Gesetzgeber tatsächliche oder vermutete Gestaltungsmaßnahmen verhindern will, die sich aus der Steuersatzspreizung zwischen dem besonderen Steuertarif der Abgeltungsteuer und dem allgemeinen progressiven Steuertarif ergeben. So findet z. B. der besondere Steuertarif der Abgeltungsteuer keine Anwendung, wenn die Kapitalerträge von einer Kapitalgesellschaft an Anteilseigner gezahlt werden, die zu mindestens 10% an der Schuldnerin beteiligt sind oder bei bestimmten Fällen von back-to-back-Finanzierungen, in denen z. B. der Gesellschafter bei einer Bank eine Einlage unterhält und die Bank in gleicher Höhe einen Kredit an die Gesellschaft vergibt.
Für die Besteuerung von Angehörigendarlehen ist eine dritte Fallgruppe bedeutsam: Für die Kapitalüberlassung zwischen einander nahe stehenden Personen ordnet der Gesetzgeber die Anwendung des progressiven Steuersatzes an (§ 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a EStG). Bereits in der Vergangenheit wurde diskutiert, ob der Gesetzgeber bei dieser Regelung über das Ziel hinausgeschossen ist. Daher wurde nachträglich die Einschränkung ins Gesetz aufgenommen, dass die Anwendung des besonderen Steuertarifs der Abgeltungsteuer nur ausgeschlossen ist, wenn die entsprechenden Ausgaben sich als beim Schuldner steuerlich auswirken, also der Effekt der Steuertarifspreizung genutzt werden kann.
Dennoch überschreitet die Auslegung der Norm durch die Finanzverwaltung weiterhin das zur Vermeidung von Steuergestaltungen angemessene Maß. Während in der Gesetzesbegründung für die Definition des Nahestehens die Regelung des § 1 AStG herangezogen wird, also sog. beherrschender oder außerhalb der Geschäftsbeziehung begründeter Einfluss ausgeübt werden kann oder ein Beteiligter eigenes wirtschaftliches Interesse an der Erzielung der Einkünfte des anderen hat, hat die Finanzverwaltung (BMF-Schreiben vom 9. 10. 2012 – IV C 1 – S 2252/10/10013, BStBl. I 2012 S. 953 , Rdn. 136) für die Auslegung des Begriffs des Nahestehens auf die Regelung des § 15 AO zurückgegriffen (offengelassen vom FG Niedersachsen, Urteil vom 18. 6. 2012 – 15 K 417/10, DB0487706, rkr.). Danach soll auch dann, wenn Gläubiger und Schuldner der Kapitalerträge Angehörige sind, der besondere Tarif der Abgeltungsteuer nicht anwendbar sein. Die Finanzverwaltung geht sogar noch weiter und will selbst dann, wenn kein Angehörigenverhältnis vorliegt, von einem Nahestehen ausgehen, wenn die Vertragsbeziehungen einem Fremdvergleich nicht standhalten (gemäß den Grundsätzen des BMF-Schreibens vom 23. 12. 2010 – IV C 6 – S 2144/07/10004, BStBl. I 2011 S. 37 = DB 2011 S. 87, Rdn. 4 bis 6).
Die Auffassung der Finanzverwaltung, wonach auch Angehörige als Nahestehende zu erfassen sind, widerspricht bereits dem Gesetzeswortlaut. Sie widerspricht aber auch dem Gesetzeszweck der Abgeltungsteuer. Ob ein Familienmitglied sein Geld zu marktüblichen Konditionen an einen Dritten verleiht oder an ein anderes Familienmitglied, darf nicht zu unterschiedlichen steuerlichen Rechtsfolgen führen. Dies gilt umso mehr, als auch der Schutz von Ehe und Familie durch Art. 6 Abs. 1 GG eine entsprechende Auslegung der Norm fordert.
Das Ziel der Missbrauchsvermeidung überschreitet die Finanzverwaltung auch dann, wenn sie einen Fall des Nahestehens sogar annimmt, wenn zwar keine Angehörigen i. S. von § 15 AO beteiligt sind, der Darlehensvertrag aber einem Fremdvergleich nicht standhält. Denn hierbei zieht sie als Vergleichsmaßstab die Vertragsgestaltungen heran, die zwischen Darlehensnehmern und Kreditinstituten üblich sind. Der Fremdvergleich setzt danach insbesondere voraus, dass eine Vereinbarung über die Laufzeit und über Art und Zeitpunkt der Rückzahlung des Darlehens getroffen worden ist, die Zinsen zu den Fälligkeitszeitpunkten entrichtet werden und der Rückzahlungsanspruch ausreichend besichert ist. Häufig wird es aber – ungeachtet einer entsprechenden Darlehensvereinbarung und einer tatsächlichen und ordnungsgemäßen Durchführung – bei Privatdarlehen an einer Besicherung fehlen. Wenn schon kein Angehörigenverhältnis vorliegt, sollte der Fremdvergleich i. d. R. bereits deshalb erfüllt sein, weil sich mit den Parteien fremde Dritte gegenüberstehen.
Der Wunsch des Gesetzgebers, Steuergestaltungen zu verhindern, welche die Differenz zwischen dem progressiven Steuertarif und dem besonderen Steuertarif der Abgeltungsteuer ausnutzen, ist legitim. Ein denkbarer Fall wäre, dass ein Ehegatte dem anderen Ehegatten ein Darlehen für dessen Betrieb oder zum Erwerb einer vermieteten Immobilie gibt, wobei sich aufgrund einer Zusammenveranlagung die Tarifspreizung zwischen voll abziehbarem Zinsaufwand und den nur mit dem Abgeltungsteuertarif versteuerten Zinseinnahmen auswirkt. Demgegenüber fehlt es gerade an einer solchen Ausnutzung der Tarifspreizung, wenn ein Kind seinen Eltern ein Darlehen in vergleichbaren Konstellationen gewährt. Zwar würden sich beim Darlehensnehmer die Zinsaufwendungen mit dem progressiven Steuertarif auswirken, während die Zinseinnahmen nur der Abgeltungsteuer unterliegen. Dies stellt aber keinen Belastungsvorteil dar und führt zum gleichen Ergebnis wie die Kreditaufnahme des Darlehensnehmers bei einer Bank, während der Darlehensgeber das Geld (hiervon unabhängig) bei einer Bank angelegt. Selbst für den Fall, dass Darlehensaufnahme und -anlage des Geldes bei derselben Bank erfolgen, erkennt der Gesetzgeber an, dass es bei der Anwendung der Abgeltungsteuer für den Darlehensgeber bleibt, wenn eine marktübliche Verzinsung vereinbart wurde oder wenn es an einem Belastungsvorteil fehlt.
Eine Kapitalüberlassung an Familienangehörige darf aber nicht gegenüber einer Anlage bei einer Bank diskriminiert werden. Es ist daher geboten, dass die Finanzverwaltung ihre bisherige Auffassung korrigiert und nicht pauschal bei allen Darlehensgewährungen zwischen Angehörigen i. S. von § 15 AO die Anwendung des Abgeltungsteuertarifs ausschließt.