Juristen neigen dazu, ihre rechtlichen Konstrukte als wirklich existierend anzusehen. Diese déformation professionnelle kann in einem Urteil des FG Hamburg vom 24. 9. 2012 (2 K 31/11, DB0556552, anhängig beim BFH: I R 76/12) beobachtet werden. Dort ging es um die Frage, ob die durch das JStG 2008 herbeigeführte zwangsweise Besteuerung des EK 02 verfassungswidrig sei.
Sachverhalt
In diesem Verfahren hatte die Klägerin Mitte der Neunzigerjahre durch Forderungsverzichte ihrer Gläubiger einen nach damaligem Recht steuerfreien Sanierungsgewinn erzielt, der in das EK 02 eingestellt wurde. Zum 31. 12. 2001 wurde der Bestand des EK 02 auf 13,8 Mio. € festgestellt; dieser Betrag blieb unverändert. Nach der Rechtslage nach Abschaffung des Anrechnungsverfahrens hätte dieses EK 02 im Wesentlichen nur zu einer Nachbesteuerung i. H. von 30% geführt, soweit daraus Ausschüttungen erfolgt wären. Nach Ablauf von 15 Wirtschaftsjahren, später geändert auf 18, hätte diese Nachbesteuerung endgültig entfallen sollen (sog. Moratorium).
Durch das JStG 2008 wurde die Rechtslage geändert. Es wurde eine KSt-Erhöhung i. H. von 3% des im EK 02-Topf befindlichen Betrages festgesetzt, die verteilt auf zehn gleiche Jahresbeträge von 2008–2017 zu entrichten ist. Die Steuer beträgt also nur ein Zehntel dessen, was das EK 02 als potenzielle Steuerbelastung im Falle einer Ausschüttung ergeben hätte; auch die Zahlungsmodalitäten sind sehr moderat. Dennoch ist diese Regelung verfassungsrechtlich äußerst problematisch. Bei der Klägerin betrug diese Steuer immerhin mehr als 400.000 €.
Urteilsbegründung des FG Hamburg
Das FG Hamburg hat in dem Urteil sehr ausführlich begründet, weshalb diese Regelung verfassungsmäßig sei. Tragender Gedanke des FG ist, dass es sich nicht um eine echte Rückwirkung handele, da nicht die Rechtsfolgen für einen bereits abgeschlossenen Sachverhalt geändert würden. Vielmehr hätte die bisherige Rechtslage nur die Möglichkeit einer „Steuerbefreiung des EK 02“ mit Ablauf des Moratoriums bedeutet, wenn bis dahin keine Ausschüttungen vorgenommen würden. Dies stelle aber keinen abgeschlossenen, nicht mehr abänderbaren Tatbestand dar. Letztlich sieht das FG Hamburg einen Dauersachverhalt darin, einen EK-02 Topf zu halten und nicht auszuschütten, bis dieser durch Zeitablauf quasi entstrickt wird.
Das FG Hamburg bewegt sich auf einem ähnlichen Wege wie ihn das BVerfG in seiner Rspr. zur Änderung der Besteuerung privater Veräußerungsgeschäfte beschritten hat. Solange diese steuerpflichtig sind, ist die Erwartung, durch Zeitablauf in die Steuerfreiheit hineinzuwachsen, nicht geschützt. Nach dem Verständnis des FG entspricht das Innehaben eines potenziell steuerfrei ausschüttbaren EK 02-Topfes cum grano salis dem Innehaben eines potenziell steuerfrei veräußerbaren Vermögensgegenstandes. Dieses Verständnis, so nahe es auch liegen mag, ist grundsätzlich unzutreffend. Es verselbstständigt den EK 02-Topf und verschiebt ihn in die reale Lebenssphäre. Dort gehört er jedoch nicht hin.
Besteuerter Lebenssachverhalt / echte Rückwirkung
Für die Frage, ob hier eine unzulässige Rückwirkung vorliegt, ist entscheidend, was der Lebenssachverhalt ist, der die Besteuerung auslöst. Das Innehaben eines EK 02-Topfes ist es jedenfalls nicht, denn der EK 02-Topf ist lediglich eine steuerliche Hilfskonstruktion. In dem Urteilsfall lag dem EK 02 ein Forderungsverzicht zugrunde. Der Gewinn aus diesem Forderungsverzicht war vor der Änderung des JStG 2008 steuerfrei, solange er in der Gesellschaft blieb, und unterlag einer Besteuerung, wenn er ausgeschüttet wurde. Die frühere Regelung betraf also einen mehraktigen Vorgang, nämlich den Forderungsverzicht in Verbindung mit der nachfolgenden Ausschüttung. Die Verbindung wurde mittels der Technik eines EK 02-Topfes hergestellt.
Durch die Zwangsbesteuerung des EK 02-Topfes ändert sich die Besteuerungsgrundlage. Der der Besteuerung zugrunde liegende Lebenssachverhalt ist ausschließlich der Forderungsverzicht der Gläubiger. Die Zwangsbesteuerung des EK 02 bedeutet also hier, dass dieser Lebenssachverhalt, der sich Mitte der Neunzigerjahre ereignete, in den Jahren 2008–2017 doch noch besteuert wird. Die Besteuerung wurde erst durch das JStG 2008 angeordnet. Es handelt sich also um den Eingriff in einen abgeschlossenen Sachverhalt, folglich um eine echte Rückwirkung.
Für die rückwirkende Besteuerung eines solchen abgeschlossenen Lebenssachverhaltes sind die Anforderungen aber wesentlich höher, sodass sie hier kaum als erfüllt angesehen werden können.
Dieser Themenkomplex ist ein gutes Beispiel dafür, dass es angezeigt sein kann sich die Frage zu stellen, was eigentlich der Lebenssachverhalt ist, um den es bei der Besteuerung geht.