Zur Aufgabe des subjektiven Fehlerbegriffs für Rechtsfragen

RA/StB Dipl.-Kfm. Dr. Thomas Curdt, LL.M., Flick Gocke Schaumburg, Bonn

RA/StB Dipl.-Kfm. Dr. Thomas Curdt, LL.M., Flick Gocke Schaumburg, Bonn

Der Große Senat des BFH hat sich kürzlich mit der grundsätzlichen Frage, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Rechtsfolgen eine Steuerbilanz fehlerhaft ist, beschäftigt. Vor dem Beschluss des Großen Senats galt, dass Bilanzansätze nur unter Berücksichtigung der subjektiven Einschätzung des Stpfl. zu überprüfen sind. Die Entscheidung bricht mit der bisherigen Rspr.

Problematik

Folgende Rechtsfrage hatte der I. Senat in seinem Vorlagebeschluss vom 7. 4. 2010 (I R 77/08, DB0351580) dem Großen Senat gestellt:

Ist das FA im Rahmen der ertragsteuerlichen Gewinnermittlung in Bezug auf zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung ungeklärte bilanzrechtliche Rechtsfragen an die Auffassung gebunden, die der vom Stpfl. aufgestellten Bilanz zugrunde liegt, wenn diese Rechtsauffassung aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns vertretbar war?

Jedem Bilanzansatz liegt sowohl ein tatsächlicher Sachverhalt als auch eine rechtliche Würdigung zugrunde. Natürlich kann es vorkommen, dass sich die Einschätzung des Stpfl. im Nachhinein als falsch herausstellt, etwa weil der Sachverhalt auf tatsächlicher Ebene anders ist als angenommen oder bspw. weil die Rechtsauffassung, die der Stpfl. seiner Bilanzierungsentscheidung zugrunde gelegt hat, in den folgenden Jahren vom BFH verworfen worden ist.

Vor dem Beschluss des Großen Senats galt, dass die subjektive Einschätzung des Stpfl. anerkannt wird, solange sie vertretbar war, und zwar sowohl hinsichtlich der tatsächlichen Umstände als auch hinsichtlich der rechtlichen Würdigung (sog. subjektiver Fehlerbegriff). Eine solche subjektiv vertretbare Entscheidung war „richtig“.

In der Praxis wurde aus dieser Rspr. oftmals geschlussfolgert, das FA sei an die subjektiv richtige Entscheidung des Stpfl. gebunden. Nach dieser Sicht durften keine abweichenden Tatsachen und auch keine abweichende Rechtsauffassung der Besteuerung zugrunde gelegt werden.

Mit Beschluss vom 31. 1. 2013 (GrS 1/10, BStBl. II 2013 S. 317 = DB 2013 S. 733) hat der Große Senat die lang erwartete Entscheidung getroffen. Er hat den subjektiven Fehlerbegriff für Rechtsfragen verworfen.

Begründung des Großen Senats

Ausschlaggebend war für den Großen Senat, dass die Finanzverwaltung – ebenso wie im Falle eines späteren Rechtstreits die Gerichte – an das geltende Recht gebunden ist und sich dem geltenden Recht keine Grundlage für eine entsprechende Einschränkung entnehmen lasse. Der Große Senat stützt sich des Weiteren auf verfassungsrechtliche Prinzipien wie den Gleichbehandlungsgrundsatz, das Rechtsstaatsprinzip sowie auf Art. 97 GG (Bindung der Richter an das Recht).

Würde es auf die subjektive Sicht des Stpfl. ankommen, könne sich dieser im Ergebnis aussuchen, wie ungeklärte oder streitige Rechtsfragen zu beurteilen sind. Dies würde nach Ansicht des Großen Senats auf ein faktisches Rechtsanwendungswahlrecht herauslaufen. Würde man der subjektiven Einschätzung des Stpfl. ein derartiges Gewicht beimessen, käme es letztlich zu einem Sonderrecht im Bereich der Bilanzierung, für das keine Rechtsgrundlage bestehe und das auch nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt sei.

Würdigung der Entscheidung und praktische Folgen

Inhaltlich ist die Entscheidung nachvollziehbar. Für eine derart gravierende Einschränkung, wie sie der subjektive Fehlerbegriff bei Rechtsfragen darstellte, wäre eine hinreichend deutliche Rechtsgrundlage wünschenswert. Im Übrigen wäre es in der Tat kritisch zu hinterfragen, wieso im Bereich der Gewinneinkünfte andere Maßstäbe als im Bereich der Überschusseinkünfte gelten sollten, bei denen der subjektiven Sicht des Stpfl. unstreitig kein Gewicht zukommt.

Der Beschluss des Großen Senats hat zur Folge, dass es auf die subjektive Einschätzung des Stpfl. bezüglich rechtlicher Fragen auch im Bereich der Bilanzierung nicht mehr ankommt. Eine Bindung der Finanzverwaltung oder der Gerichte an die subjektive Sicht des Stpfl. besteht daher nicht (mehr). Es ist nunmehr – wie seit jeher im Bereich der Überschusseinkünfte – allein das objektive Recht maßgeblich, wie es sich in der Anwendung seitens der Finanzverwaltung und später ggf. der Gerichte darstellt.

Diese Rspr.-Änderung ist allerdings nicht, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, für den Stpfl. nur nachteilig. Zwar ist es denkbar, dass nun im Einzelfall etwa neue Rspr. zum Nachteil des Stpfl. berücksichtigt wird. Es ist aber auch möglich, vorteilhafte Rspr. in den Fällen nachträglich zu berücksichtigen, in denen zuvor wegen der subjektiven Vertretbarkeit der seinerzeitigen Bilanzierungsentscheidung eine Änderung aufgrund des subjektiven Fehlerbegriffs ausgeschlossen war.

Voraussetzung für die Berücksichtigung neuer Rspr. ist, dass das steuerliche Verfahrensrecht entsprechende Änderungsmöglichkeiten eröffnet (bspw. Änderung bereits erlassener Steuerbescheide). Erfolgte die seinerzeitige Veranlagung etwa unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO), ist die Änderung des Steuerbescheids grundsätzlich möglich. Einschränkungen können aber aus § 176 AO folgen, wonach in bestimmten Fällen das Vertrauen des Stpfl. in die Bestandskraft der Steuerbescheide geschützt wird. Allerdings zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass das Schutzniveau des § 176 AO geringer ist als dasjenige des vormals vertretenen subjektiven Fehlerbegriffs für Rechtsfragen. Als Beispiel hierfür sei angeführt, dass nach § 176 AO nur bei der Steuerfestsetzung berücksichtigte höchstrichterliche Rspr. zu einem Vertrauensschutz führen kann. Im Gegensatz dazu war der subjektive Fehlerbegriff bereits im Falle einer ungeklärten Rechtsfrage (ohne bestehende höchstrichterliche Rspr.) anwendbar.

Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass sich die Thematik durch den Beschluss des Großen Senats ins Verfahrensrecht verlagert hat.

Fortgeltender subjektiver Fehlerbegriff für Tatsachen

Keine Auswirkungen dürfte der Beschluss des Großen Senats auf die Tatsachenebene haben. Hier wird auch zukünftig die subjektive Sicht entscheidend sein, was insbesondere für Schätzungen und Prognosen des Stpfl. relevant sein wird. Formal ist dies bereits deshalb der Fall, weil sich der Beschluss des Großen Senats nicht auf die Tatsachenebene erstreckt. Inhaltlich dürfte entscheidend sein, dass sich das Bilanzrecht in einer Zeitpunktentscheidung erschöpft, bei der die Erkenntnisse des Stpfl. naturgemäß beschränkt sind. Anders als auf der rechtlichen Ebene geht es bei den Tatsachen nicht darum, dass der Geltungsanspruch des Rechts infrage gestellt wird.

 

 

 

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