Steuerbescheide werden mit Bekanntgabe an den Adressaten wirksam (§ 124 Abs. 1 AO) und können von der Finanzbehörde nur noch geändert werden, wenn die einschlägigen Änderungsvorschriften der AO erfüllt sind. Hat der Steuerpflichtige den Steuerbescheid innerhalb der Rechtsbehelfsfrist angefochten, so kann die Behörde den Bescheid im Einspruchsverfahren auch zu Ungunsten des Steuerpflichtigen ändern, wenn dieser vor der Änderung darauf hingewiesen wurde (§ 367 Abs. 2 AO). Er hat dann die Möglichkeit den Einspruch zurückzunehmen, und die Behörde ist bzgl. der beabsichtigten Änderung wieder auf die einschlägigen Änderungsvorschriften verwiesen.
Änderung wegen neuer Tatsachen
Eine der wichtigsten Änderungsvorschriften ist § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Danach sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Die Vorschrift wirft eine Reihe von Fragen auf, die Rechtsprechung hierzu ist nahezu unübersehbar. Der BFH hat vor kurzem eine Entscheidung getroffen, in der zunächst ganz auf der Grundlage der überkommenen Rechtsprechung die Tatbestandsmerkmale „Tatsache“ und „nachträglich“ definiert werden (BFH vom 18.12.2014 – VI R 21/13, DB 2015 S. 961): Tatsache „ist jeder Lebenssachverhalt, der Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art.“ Tatsachen werden nachträglich bekannt, „wenn deren Kenntnis nach dem Zeitpunkt erlangt wird, in dem die Willensbildung über die Steuerfestsetzung abgeschlossen ist.“ Kannte der zur Bearbeitung des Steuerfalls zuständige Sachbearbeiter den Sachverhalt und hat er ihn dennoch nicht (vollständig) berücksichtigt, so ist § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht anwendbar, der Steuerbescheid kann nicht geändert werden.
BFH-Beschluss vom 18.12.2014
Diese klare rechtliche Ausgangslage wird in der genannten Entscheidung relativiert. Bei bestimmten Änderungsbescheiden geht der BFH davon aus, dass es zu gar keiner Willensbildung des Finanzamts kommt, die die Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ausschließen könnte. In dem zugrunde liegenden (hier vereinfachten) Fall hatte das Finanzamt einen Steuerbescheid erlassen, der in einzelnen Punkten nach § 165 AO für vorläufig erklärt wurde, weil hierzu Musterverfahren beim BFH anhängig waren. Im später ergangenen Änderungsbescheid wurde der Vorläufigkeitsvermerk aufgehoben, nachdem der BFH mittlerweile hierzu Rechtsklarheit geschaffen hatte. Später änderte das Finanzamt den Bescheid erneut und verwertete dabei zu Lasten des Steuerpflichtigen steuererhebliche Tatsachen (Zufluss geldwerter Vorteile), die sich aus einer Lohnsteuer-Außenprüfung seines Arbeitgebers ergaben. Diese Tatsachen waren dem Finanzamt noch nicht bekannt, als der Ursprungsbescheid erging, wohl aber, als dieser Bescheid erstmals geändert wurde. Die Frage ist, ob der zweite Änderungsbescheid, der auf Berücksichtigung der geldwerten Vorteile gerichtet ist, auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützt werden kann. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist dies zu verneinen, da die Tatsachen dem Finanzamt vor Erlass des ersten Änderungsbescheids bereits zur Kenntnis gelangt sind.
Berücksichtigung „bekannter“ Tatsachen im zweiten Änderungsbescheid
Dennoch hindert das nach Ansicht des BFH die Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht. „Verpflichtet … die beabsichtigte Änderung nach ihrer Art nicht zur weiteren Sachprüfung, bleibt eine spätere Änderung des (vorherigen) Änderungsbescheids nach § 173 AO möglich.“ Dies gelte insbesondere in den Fällen, in denen der Vorläufigkeitsvermerk darauf abziele, eine spätere materielle Änderung zu ermöglichen, wenn – wie in Fällen des § 165 Abs. 1 Nr. 3 AO – anhängige Musterverfahren zugunsten des Steuerpflichtigen entschieden werden. § 165 Abs. 1 Nr. 3 AO zielt in der Tat auf Massenverfahren ab, die punktuell offen bleiben sollen, solange das Musterverfahren schwebt. Der BFH geht davon aus, dass nach Abschluss des Musterverfahrens eben nur der Vorläufigkeitsvermerk bereinigt wird, weitere Gedanken zur Richtigkeit des Bescheids mache sich das Finanzamt nicht. Zu mehr als einer „punktuellen Überprüfung des Steuerbescheids im Hinblick auf den Vorläufigkeitsausspruch“ sei das Finanzamt auch nicht verpflichtet. „Deshalb brauchen auch bei einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO andere als die Ungewissheit betreffenden Tatsachen nicht berücksichtigt werden, auch wenn sie den Finanzbehörden zum Zeitpunkt dieser Änderung bekannt sind oder als Bestandteil der Akten des zu veranlagenden Steuerpflichtigen als bekannt gelten“ (BFH vom 18.12.2014, a.a.O.).
Zwei Kategorien von Änderungsbescheiden
Es mag in der Praxis zutreffen, dass die Behörde bei Wegfall des Grundes der Vorläufigkeit (regelmäßig) nur den Vorläufigkeitsvermerk beseitigt. Doch die Schlüsse, die der BFH hieraus für die Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zieht, dürften kaum überzeugen. Bei Erlass des Ursprungsbescheids waren die geldwerten Vorteile noch nicht bekannt, sie ergaben sich erst aus der späteren Lohnsteueraußenprüfung. Im späteren Änderungsbescheid waren diese Tatsachen bekannt, wurden aber nicht berücksichtigt, weil es nur um die Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks ging. Dennoch ist auch dieser Änderungsbescheid ein Bescheid, der im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bei der Subsumtion unter den Begriff „nachträglich“ zu berücksichtigen ist, denn die Behörde war ja nicht gehindert, die richtigen Schlüsse aus der vorher erlangten Kenntnis der neuen Tatsachen zu ziehen. Nach der Rechtsprechung des BFH wird das Finanzamt bei der Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO so gestellt, als habe es keinen Änderungsbescheid erlassen, bei dem die Verwertung der neuen Tatsache möglich gewesen wäre. Damit gibt es zwei Kategorien von Änderungsbescheiden, nämlich solche, bei denen die dem Finanzamt bekannt gewordene Tatsache zur Kenntnis genommen werden muss, so dass danach eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht mehr möglich ist (kein „nachträgliches Bekanntwerden“) und solche bei denen diese Tatsache nicht zur Kenntnis genommen werden muss (deshalb „nachträgliches Bekanntwerden“). Wenn das auch schwer nachvollziehbar ist, so wird man damit leben müssen, dass es im Anwendungsbereich des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zwei Sorten von Änderungsbescheiden gibt.