Das Erbschaftsteuerrecht ist weitgehend zivilrechtlich geprägt. Bei der Besteuerung von Pflichtteilsansprüchen weicht das Erbschaftsteuerrecht jedoch bewusst vom Zivilrecht ab. Nach einer Entscheidung des BFH vom 07.12.2016 (II R 21/14, RS1233198) kann ein geerbter Pflichtteilsanspruch selbst dann der Erbschaftsteuer unterliegen, wenn er nicht geltend gemacht wird. Damit entsteht die Erbschaftsteuer bereits mit dem Tode des Pflichtteilsberechtigten, ohne dass es auf die Geltendmachung des Anspruchs durch dessen Erben ankommt. Daher sollten Erben überprüfen, ob im Nachlass des Erblassers auch nicht geltend gemachte Pflichtteilsansprüche enthalten sind.
Hintergrund
Aus zivilrechtlicher Sicht entsteht ein Pflichtteilsanspruch bereits im Zeitpunkt des Erbfalls (§ 2317 Abs. 1 BGB) und gehört von da an – unabhängig von seiner tatsächlichen Geltendmachung – zum Vermögen des Pflichtteilsberechtigten (Anfallprinzip). Das Erbschaftsteuerrecht hingegen unterwirft den entstandenen Pflichtteilsanspruch abweichend von der allgemeinen Grundregel des § 9 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG, wonach die Erbschaftsteuer bei Erwerben von Todes wegen mit dem Tode des Erblassers entsteht, nicht unmittelbar der Besteuerung. Stattdessen entsteht die Steuer erst im Zeitpunkt der Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG). Unter einer solchen Geltendmachung versteht der Gesetzgeber das ernstliche Verlangen auf Erfüllung des Anspruchs gegenüber den Erben. Im Gegenzug ist der Pflichtteilsanspruch als Nachlassverbindlichkeit erst mit Geltendmachung beim Erben abzugsfähig (vgl. § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG).
Durch die Verlagerung des Besteuerungszeitpunkts auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs wird gewährleistet, dass der Anspruchsberechtigte frei wählen kann, ob er sich auf den Pflichtteilsanspruch berufen will oder nicht. Aus den unterschiedlichsten Gründen ist es denkbar, dass der Pflichtteilsberechtigte seinen Pflichtteilsanspruch gar nicht geltend machen möchte. Würde der Anspruch jedoch unabhängig von seiner Geltendmachung besteuert werden, könnte sich der Pflichtteilsberechtigte dazu gezwungen sehen, seinen Anspruch gegen den Nachlass durchzusetzen, alleine um die Erbschaftsteuer zahlen zu können.
Entscheidung des BFH zu geerbten Pflichtteilsansprüchen
Der BFH hatte sich in seinem Urteil vom 07.12.2016 (II R 21/14, RS1233198) mit dem Fall auseinanderzusetzen, dass der Pflichtteilsberechtigte (des 1. Erbgangs) ebenfalls verstirbt (2. Erbgang), ohne davor seinen Pflichtteil geltend gemacht zu haben. In einem solchen Fall fällt der noch nicht geltend gemachte Pflichtteilsanspruch als Zahlungsanspruch in die Erbmasse des Pflichtteilsberechtigten (§ 2317 Abs. 2 BGB) und muss von dessen Erben sofort versteuert werden. Auf die Geltendmachung des geerbten Pflichtteilsanspruchs kommt es nach Ansicht des BFH in diesem Fall gerade nicht an.
Damit verweigert der BFH den Erben des Pflichtteilsberechtigten das Wahlrecht, das das Gesetz dem Pflichtteilsberechtigten einräumt. Dies rechtfertigt der BFH mit dem Argument, dass das persönliche Näheverhältnis zwischen dem Pflichtteilsberechtigten und dem Pflichtteilsverpflichteten mit dem 2. Erbgang erloschen sei und ein etwaiges vergleichbares Näheverhältnis zwischen dem Erben des Pflichtteilsberechtigten und dem Pflichtteilsverpflichteten unbeachtlich sei. Dieses Argument lässt sich vor dem Hintergrund des Sinn und Zwecks der gesetzlichen Regelung durchaus in Frage stellen.
Der BFH kommt hier dem Steuerpflichtigen insoweit entgegen, als die sodann erfolgende Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs durch die Erben des Pflichtteilsberechtigten entgegen den Regelungen des Gesetzes keine erneute Steuer auslöse und von den Erben des 1. Erbgangs als Belastung abgezogen werden könne. Auch wenn aus dem Urteil nicht hervorgeht, auf welche Rechtsgrundlage der BFH sich für die Begründung der Steuerfreiheit beruft, ist diese Aussage des BFH im Ergebnis zutreffend, um eine Doppelbesteuerung des Pflichtteilsanspruchs zu vermeiden.
Praxishinweis
Die Folgen des Urteils erscheinen gravierend. Zukünftig sollte jeder Erbe überprüfen, ob im Nachlass des Erblassers auch nicht geltend gemachte Pflichtteilsansprüche enthalten sind. Andernfalls mag dies sogar steuerstrafrechtliche Folgen haben.
In bestimmten Fallkonstellationen kann das Urteil zu höchst unerwünschten Folgen führen. Dies betrifft unter anderem Berliner Testamente, bei denen das Kind durch eine Pflichtteilsstrafklausel an der Geltendmachung des Pflichtteils gehindert wird, um die Alleinerbschaft des anderen Elternteils zu sichern. Wenn das Kind nach Ableben eines Elternteils verstirbt und von seinem eigenen Kind, dem Enkelkind seiner Eltern, beerbt wird, fällt in seinen Nachlass auch der nicht geltend gemachte Pflichtteilsanspruch. Dieser Pflichtteilsanspruch wird nunmehr als ein Zahlungsanspruch beim Enkelkind erbschaftversteuert. Das Enkelkind ist aber aufgrund der fortwirkenden Pflichtteilsstrafklausel faktisch an der Geltendmachung des Pflichtteils gehindert. In der Folge unterliegt der Pflichtteilsanspruch beim Enkelkind der Erbschaftsteuer, obwohl wirtschaftlich kein Vermögenszuwachs erfolgt.
Vor diesem Hintergrund mag es geboten sein, dass Pflichtteilsberechtigte zeitnah auf ihren Pflichtteil verzichten sollten, um diese steuerlichen Folgen zu vermeiden. Ein solcher Verzicht des Pflichtteilsberechtigten ist steuerfrei (§ 13 Abs. 1 Nr. 11 ErbStG) und vermeidet einen späteren derivativen Erwerb des Pflichtteilsanspruchs durch seine Erben. Dies gilt auch für den Fall, dass der Pflichtteilsanspruch bereits vor dem 2. Erbgang verjährt ist. Denn es ist bisher noch nicht abschließend durch die Rechtsprechung geklärt, wie ein verjährter Pflichtteilsanspruch steuerlich zu behandeln ist.