(Rückwirkender) Vorsteuerabzug bei nachträglichem Steuerausweis

StB, Dipl.-FW (FH) Ronny Langer, Partner bei KÜFFNER MAUNZ LANGER ZUGMAIER Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, München

Der EuGH hatte innerhalb kurzer Zeit zweimal darüber zu entscheiden, ob der Vorsteuerabzug aus einer berichtigten Rechnung, in der nachträglich Umsatzsteuer ausgewiesen wurde, zulässig sei. Spezielle Ausschlussfristen für den Vorsteuerabzug im slowakischen und portugiesischen Umsatzsteuergesetz standen einem Vorsteuerabzug entgegen. In der Rs. Volkswagen AG (Urteil vom 21.03.2018 – Rs. C-533/16) ging es um die Berichtigung einer Rechnung, in der ursprünglich keine Steuer ausgewiesen war, weil der Leistende von einem nicht steuerbaren Vorgang ausging. In der Rs. Biosafe (Urteil vom 12.04.2018 – Rs. C-8/17) war zunächst ein falscher Steuersatz angewandt worden (ermäßigt 5% statt regulär 21%). Auf diesen Unterschied ging der EuGH jedoch nicht ein. Offenbar sah der EuGH darin keinen für seine Entscheidungen relevanten Aspekt.

Den Vorsteuerabzug beschränkende Fristen sind mit Unionsrecht unvereinbar

Der EuGH wiederholt in den Urteilen die Grundsätze seiner bisherigen Rechtsprechung, wonach das Recht auf Vorsteuerabzug nicht eingeschränkt werden kann, sofort ausgeübt werden kann und materiellen sowie formellen Anforderungen und Bedingungen unterliegt. Demzufolge sei jegliche den Vorsteuerabzug beschränkende Frist mit dem Unionsrecht unvereinbar. Den Grundsatz der Rechtssicherheit betrachtet der EuGH in solchen Fällen als nachrangig.

Maßgeblicher Besteuerungszeitraum für Vornahme des Vorsteuerabzugs

Aus den Urteilsgründen ist nicht erkennbar, ob sich der EuGH mit der Frage beschäftigt hat, für welchen Besteuerungszeitraum der Vorsteuerabzug ausgeübt werden kann. Nach dem Wortlaut der Art. 178 und 179 MwStSystRL könnte man annehmen, dass der Vorsteuerabzug nur für den Besteuerungszeitraum ausgeübt werden kann, in dem erstmalig eine ordnungsmäßige (gem. Art. 220-236 und 238-240 MwStSystRL ausgestellte) Rechnung vorliegt. So hatte der EuGH auch in seinem Urteil vom 29.04.2004 in der Rs. Terra Baubedarf-Handel (Rs. C-152/02, DB 2004 S. 1080) entschieden. In seinem Urteil vom 15.09.2016 in der Rs. Senatex (Rs. C-518/14, RS1216976) stellte der EuGH jedoch fest, dass das Recht auf Vorsteuerabzug in Bezug auf eine berichtigte Rechnung für das Jahr ausgeübt werden kann, in dem diese Rechnung ursprünglich ausgestellt wurde. Es geht also nicht darum, wann eine ordnungsgemäße (berichtigte) Rechnung vorliegt, also wann der Vorsteuerabzug ausgeübt werden kann, sondern für welchen Besteuerungszeitraum der Vorsteuerabzug ausgeübt werden kann, also (rückwirkend) zu welchem Zeitpunkt. Dies ist vor dem Hintergrund einer möglichen Verzinsung der Erstattungsansprüche nach § 233a AO sehr bedeutsam. Dabei ist ein Aspekt noch nicht vom EuGH beleuchtet worden, leider auch nicht in den Rs. Volkswagen AG und Biosafe. Gelten die Grundsätze zur Rückwirkung der Rechnungsberichtigung auch für Fälle, in denen in der Rechnung keine Angaben zum Steuerausweis gemacht wurden (z.B. weil der Rechnungsaussteller die Steuerpflicht verkannt hat)?

Neutralität bei Umsätzen zwischen voll vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmen

Der EuGH ging leider auch nicht im Detail auf die von der Generalanwältin Juliane Kokott in ihren Schlussanträgen vom 30.11.2017 im Verfahren in der Rs. Biosafe vorgetragenen Argumente ein. Die Generalanwältin hatte darin die Existenz einer Rechnung, die eine Mehrwertsteuerbelastung offen ausweist, nicht nur als formelles Kriterium gesehen, sondern zum materiellen Tatbestandsmerkmal des Vorsteuerabzugs erhoben. Dies hat sie aus dem Sinn und Zweck einer Rechnung, der u.a. auch darin besteht, einen Gleichlauf zwischen der Steuerschuld und dem Vorsteuerabzug herzustellen, abgeleitet. Die Generalanwältin führte dazu den Neutralitätsgrundsatz an, wonach das Unternehmen als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates von der endgültigen Belastung mit Mehrwertsteuer grundsätzlich zu befreien ist, sofern die unternehmerische Tätigkeit selbst der Erzielung (grundsätzlich) steuerpflichtiger Umsätze dient. Die Entlastung von der Mehrwertsteuer sei deshalb zu dem Zeitpunkt erforderlich, zu dem die Belastung entstehe, weil der Leistende die Mehrwertsteuer offen in der Rechnung ausweise. Diese Sichtweise wird zum Teil zu Recht kritisch betrachtet. So ist der Leistungsempfänger beispielsweise auch dann mit der Mehrwertsteuer belastet, wenn sie nicht in der Rechnung offen ausgewiesen wird. Die Mehrwertsteuer entsteht unabhängig vom Ausweis in einer Rechnung lediglich aufgrund der Tatsache, dass eine steuerpflichtige Leistung erbracht wurde. Deshalb ergibt sich auch aus § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG, dass die Umsatzsteuer aus dem entrichteten (und im Regelfall auch abgerechneten) Bruttobetrag herauszurechnen ist. In jedem Rechnungsbetrag steckt demzufolge auch ohne gesonderten Steuerausweis ein Steuerbetrag, sofern über eine steuerpflichtige Leistung abgerechnet wurde, für die es keinen Steuerschuldübergang gibt.

Unter normalen Umständen, wenn also keine Steuerhinterziehung im Raum steht, soll bei Umsätzen zwischen voll vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmen völlige Neutralität bestehen. Dies macht Art. 168 MwStSystRL deutlich, der die Entstehung der Steuerschuld mit der Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug gleichsetzt. Die sich anschließenden, konkretisierenden Vorschriften, insbesondere Art. 168 und Art. 178 MwStSystRL passen insofern grds. auch zu einer regulären, fehlerfreien Abrechnung. Lassen diese sich aber wörtlich auf die den EuGH-Vorlagen zugrunde liegenden Fälle anwenden? Insbesondere dann, wenn wie in Deutschland eine Verzinsung gem. § 233a AO an die Festsetzung einer Steuernachzahlung geknüpft ist? Völlige Neutralität – stets in der Annahme, dass keine Steuerhinterziehung und kein Missbrauch im Raum steht – wird in diesen Fällen nur dann erreicht, wenn das Recht auf Vorsteuerabzug für den Zeitraum ausgeübt wird, in dem die Steuer entstanden ist.

Das eigentlich eine Folgewirkung darstellende Grundproblem liegt darin, dass sich die meisten Mitgliedstaaten durch Erhebung von Zinsen bereichern, wenn eine rückwirkende Steuerfestsetzung erfolgt, für die der Leistungsempfänger ein (sofortiges und volles) Vorsteuerabzugsrecht hat, dem Staat also bei regulärer Abwicklung kein Liquiditätsüberschuss entstanden wäre. Dieses bislang häufig auftretende Phänomen könnte vermieden werden, wenn der Vorsteuerabzug bei einer Rechnungsberichtigung rückwirkend ausgeübt wird. Dann ergäbe sich eine Zinserstattung zu Gunsten des Leistungsempfängers, die der Zinsbelastung des Leistenden gleichwertig gegenüber steht. Ein Ausgleich zwischen den Parteien würde dann Neutralität schaffen. Alternativ könnte darüber nachgedacht werden, die Verzinsung für solche Konstellationen abzuschaffen. Lediglich wenn der Leistungsempfänger nicht vorsteuerabzugsberechtigt ist, wie z.B. private Endkunden, ist eine Verzinsung zur Kompensation einer verspäteten Steuerfestsetzung grundsätzlich nachvollziehbar. Leider wurde dieser Aspekt aber weder in den Vorlagebeschlüssen noch in den Schlussanträgen thematisiert. Und der EuGH hat leider auch nicht über den Tellerrand hinausgeschaut, wie er es manchmal tut, und nur die konkret vorgelegten Einzelfälle entschieden.

Vereinbarkeit der Verjährungsvorschriften mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz?

Ein interessanter Aspekt ergibt sich aber dennoch aus den Entscheidungen des EuGH. Es wurde hin und wieder diskutiert, ob die Rechtsprechung des EuGH in der Rs. Senatex (Rs. C-518/14, RS1216976) und in der Rs. Barlis 06 (Rs. C-516/14, RS1216975) zur Folge haben könnte, dass eine Rückwirkung der Rechnungsberichtigung in festsetzungsverjährte Jahre den Verlust des Vorsteuerabzugs bedeutet, wenn dieser zunächst unterblieben ist. Man könnte die Feststellungen des EuGH aber so interpretieren, dass auch die Verjährung gem. §§ 169 ff. AO unter bestimmten Umständen mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz unvereinbar ist und nicht zur Anwendung kommen darf, wenn es dem Steuerpflichtigen zunächst unmöglich war, den Vorsteuerabzug auszuüben. Dies würde nur dann nicht gelten, wenn der Steuerpflichtige einen Mangel an Sorgfalt an den Tag gelegt hätte oder ein Missbrauch oder ein kollusives Zusammenwirken mit dem Leistenden an einer Steuerhinterziehung vorgelegen hätte. Sowohl in der Rs. Volkswagen AG als auch in der Rs. Biosafe ergab sich laut EuGH aus den Vorlageentscheidungen, dass keine Gefahr einer Steuerhinterziehung oder Nichtabführung der Umsatzsteuer bestand. Auch den Umstand, dass die Leistungsempfänger die falschen Abrechnungen offenbar weder geprüft noch bemängelt hatten, stufte der EuGH zudem nicht als mangelnde Sorgfalt ein.

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