Das Phänomen der „passiven Entstrickung“ – oder: Nichtstun kann Steuern auslösen

RA/StB Dr. Maximilian Haag, LL.M., P+P Pöllath und Partners, München

Das Steuerrecht kennt eine Reihe sog. Entstrickungstatbestände – Vorgänge, die zur Versteuerung der stillen Reserven eines Wirtschaftsguts führen, ohne dass dieses vom Steuerpflichtigen verkauft oder sonst am Markt verwertet worden ist. Charakteristisch für diese Sachverhalte ist, dass sie nicht mit einem Liquiditätszufluss beim Steuerpflichtigen einhergehen, weshalb die Entstrickungsbesteuerung wirtschaftlich wie eine Substanzbesteuerung wirkt. Mit BMF-Schreiben vom 26.10.2018 (DB 2018 S. 2721) hat die Finanzverwaltung klargestellt, dass die Entstrickungsbesteuerung unabhängig von einer Handlung des Steuerpflichtigen allein durch eine Änderung der rechtlichen Ausgangssituation ausgelöst werden kann, wenn dadurch das deutsche Besteuerungsrecht endet oder eingeschränkt wird – sog. „passive Entstrickung“.

Ausschluss oder Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts als steuerauslösendes Ereignis

Alle Entstrickungstatbestände können durch den „Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ ausgelöst werden. Gemeint ist damit jeder Vorgang, der dazu führt, dass das Besteuerungsrecht nach einem Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) ganz oder teilweise von Deutschland zu einem anderen Land wechselt. So kann der mit mindestens 1% am Kapital beteiligte Anteilseigner einer Kapitalgesellschaft die deutsche Wegzugssteuer trotz Beibehaltung seines deutschen Wohnsitzes auslösen, wenn er einen zweiten Wohnsitz im DBA-Ausland begründet und sich sein Lebensmittelpunkt an den neuen Wohnsitz verlagert (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AStG). Weitere Beispiele für eine solche Entstrickungsbesteuerung sind:

  • Wechsel der Zuordnung einzelner Wirtschaftsgüter eines Betriebsvermögens von einer inländischen zu einer ausländischen Betriebsstätte ( 4 Abs.1 Satz 3 und 4 EStG);
  • Wechsel der Zuordnung aller Wirtschaftsgüter eines Betriebsvermögens vom Inland ins Ausland (§ 16 Abs. 3a EStG);
  • Wechsel der Zuordnung einzelner Wirtschaftsgüter einer Kapitalgesellschaft vom Inland ins Ausland (§ 12 Abs. 1 KStG);
  • Verlegung von Sitz oder Ort der Geschäftsleitung einer inländischen Kapitalgesellschaft in ein Nicht-EU/EWR-Land (§ 12 Abs. 3 KStG);
  • Verlagerung der Ansässigkeit des Inhabers sog. sperrfristbehafteter Anteile aus einer Unternehmensumwandlung innerhalb von sieben Jahren in ein Nicht-EU/EWR-Land (§ 22 Abs. 1 Satz 6 Nr. 6 UmwStG);
  • Verlegung von Sitz oder Ort der Geschäftsleitung einer inländischen Kapitalgesellschaft ins DBA-Ausland, wenn dadurch das deutsche Besteuerungsrecht an den Anteilen dieser Gesellschaft bei inländischen Steuerpflichtigen endet oder beschränkt wird (§ 17 Abs. 5 EStG).

Ausschluss oder Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts allein durch Abschluss oder Änderung von DBA möglich

Das BMF-Schreiben vom 26.10.2018 (DB 2018 S. 2721) stellt klar, dass der „Ausschluss oder die Beschränkung“ des deutschen Besteuerungsrechts allein durch den Abschluss eines neuen DBA oder die Änderung eines vorhandenen DBA der Bundesrepublik Deutschland mit einem anderen Land eintreten kann („passive Entstrickung“). Die Finanzverwaltung kann sich hierbei auf den Wortlaut der meisten Entstrickungsvorschriften stützen, welcher „passiv“ formuliert ist. Fraglich ist, ob bei doppelansässigen Kapitalgesellschaften durch Neuabschluss eines DBA eine passive Entstrickung eintreten kann. Nach dem Gesetz muss es „infolge der Verlegung ihres Sitzes oder ihrer Geschäftsleitung“ zur Entstrickung gekommen sein (§ 12 Abs. 3 Satz 2 KStG). Der dadurch hergestellte zeitliche Zusammenhang zwischen der Begründung der Doppelansässigkeit der Gesellschaft und dem Verlust des deutschen Besteuerungsrechts dürfte nicht vorliegen, wenn das deutsche Besteuerungsrecht erst viele Jahre nach Verlegung des Orts der Geschäftsleitung in ein Nicht-DBA-Land durch den Abschluss eines DBA mit diesem Land endet.

Fallgruppen der passiven Entstrickung

In folgenden Szenarien sollten Steuerpflichtige mit Bezug zu bestimmten Ländern das Risiko einer passiven Entstrickung im Auge behalten:

  1. Länder, mit denen Deutschland kein DBA hat, aber sich in Verhandlungen befindet; das betrifft derzeit 23 Länder, u.a. Kolumbien, Panama und Hongkong (Stand 01.01.2019, Quelle: BMF). In dieser Fallgruppe droht die Entstrickung doppelansässigen Steuerpflichtigen oder Gesellschaften, wenn der Lebensmittelpunkt des Steuerpflichtigen bzw. der Ort der Geschäftsleitung der Gesellschaft in dem anderen Land liegt (vgl. Art. 4 Abs. 2 Buchst. a bzw. Abs. 3 OECD-MA).
  2. Länder, mit denen Deutschland ein DBA abgeschlossen hat, sich aber in Vorbereitung einer Revision oder Ergänzung des Abkommens befindet; dies betrifft derzeit über 40 Länder, darunter viele EU-Staaten einschließlich Großbritannien, ferner Norwegen und die Schweiz sowie China, Indien, Israel, Russland, Südafrika und Singapur. In diesen Fällen droht eine passive Entstrickung, wenn nach dem alten DBA ein dem Steuerpflichtigen gehörendes Wirtschaftsgut der deutschen Besteuerung unterliegt, nach dem künftigen DBA aber nicht mehr.

Da manche DBA rückwirkend anzuwenden sind (z.B. aktuell geplant das revidierte DBA Mexiko), bleibt manchmal nach Inkrafttreten eines DBA keine Zeit zur Vermeidung der passiven Entstrickung. Die Entstrickung tritt dann rückwirkend ein (BMF vom 26.10.2018, a.a.O.). Geschützt ist der Steuerpflichtige lediglich, wenn er für den betreffenden Veranlagungszeitraum bereits einen bestandskräftigen Steuerbescheid hat. Denn die rückwirkende Änderung eines DBA berechtigt das Finanzamt nicht zur Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheids.

Besonderes Risiko bei Immobiliengesellschaften

In der Praxis häufig ist der Wechsel des Besteuerungsrechts bei Anteilen an bestimmten Immobiliengesellschaften im Zuge der Revision eines bestehenden DBA: Ältere DBA weisen das Besteuerungsrecht an Kapitalgesellschaftsanteilen grds. dem Ansässigkeitsstaat des Anteilseigners zu (vgl. Art. 13 Abs. 5 OECD-MA). Neuere DBA weisen das Besteuerungsrecht an Anteilen von Kapitalgesellschaften, deren Aktivvermögen zu mehr als 50% aus Immobilien im anderen DBA-Land besteht, dem anderen Land zu (vgl. Art. 3 Abs. 4 OECD-MA, Art. 13 Abs. 2 DBA Spanien, Art. 13 Abs. 2 DBA Luxemburg). Laut BMF-Schreiben vom 26.10.2018 (a.a.O.) trat bei Anteilen an Kapitalgesellschaften, deren Vermögen überwiegend aus spanischen Immobilien besteht, am 01.01.2013 die passive Entstrickung ein. Da Deutschland derzeit mit einer Vielzahl von Ländern in Europa an einer Revision der DBA arbeitet, droht in naher Zukunft in vielen weiteren Ländern eine Entstrickung von Anteilen an Immobiliengesellschaften wie im Fall von Spanien. Zum aktuellen Verhandlungsstand der einzelnen DBA vgl. BMF vom 17.01.2019.

Ermittlung des fiktiven Veräußerungsgewinns

Folge der passiven Entstrickung ist eine Besteuerung der bis zum Entstrickungszeitpunkt im betroffenen Wirtschaftsgut entstandenen stillen Reserven; die Entstrickung wirkt damit ertragsteuerlich wie eine Veräußerung des Wirtschaftsguts. Bei der Ermittlung des fiktiven Veräußerungsgewinns stellt sich die Frage, wie mit stillen Reserven umzugehen ist, die bis zum 31.12.2006 entstanden sind. Die meisten Entstrickungsvorschriften wurden mit dem SEStEG vom 07.12.2006 mit Wirkung zum 01.01.2007 eingeführt. M.E. sind die Grundsätze der Entscheidung des BVerfG vom 07.07.2010 (2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, RS0818767) zur Absenkung der Wesentlichkeitsschwelle in § 17 EStG auf die Einführung der Entstrickungsvorschriften anzuwenden. Hiernach wäre Deutschland daran gehindert, stille Reserven, die bis zum 31.12.2006 entstanden sind, der Besteuerung zu unterwerfen. Denn wäre die Entstrickung vor dem 01.01.2007 eingetreten, wäre keine deutsche Steuer ausgelöst worden. Soweit ersichtlich, gibt es hierzu allerdings noch keine Rechtsprechung, keine Stellungnahme der Finanzverwaltung und kein Schrifttum.

Fazit

Seit dem BMF-Schreiben vom 26.10.2018 (a.a.O.) ist klar, dass das ertragsteuerliche Risiko einer passiven Entstrickung durch Abschluss oder Änderung eines deutschen DBA kein theoretisches Szenario ist. Häufig kann eine Entstrickung vermieden werden, wenn der Steuerpflichtige rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen ergreift (z.B. den Ort der Geschäftsleitung einer Kapitalgesellschaft nach Deutschland zurückverlegt oder den ausländischen Immobilienbestand einer Kapitalgesellschaft verringert). Dies setzt allerdings die Kenntnis des Steuerpflichtigen vom bestehenden Risiko voraus. Da die passive Entstrickung ohne jedes Zutun des Steuerpflichtigen eintreten kann, wird er oft keine Chance haben, sich darauf einzustellen. Hier wäre der Gesetzgeber gefordert, für solche allein aus seiner Sphäre herrührenden zusätzlichen Besteuerungsrisiken spezialgesetzliche Stundungsmöglichkeiten (ähnlich § 6 Abs. 4 oder 5 AStG) oder eine obligatorische Streckung der Besteuerung auf mehrere Veranlagungszeiträume (ähnlich § 4g EStG) zu schaffen.

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