In seinem unlängst veröffentlichten Urteil vom 27.11.2019 (V R 23/19, DB 2020 S. 265) hat der BFH eine bemerkenswerte 180-Grad-Wende vollzogen und entgegen seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass ein Aufsichtsratsmitglied nicht als Unternehmer tätig ist, wenn es aufgrund einer nicht variablen Festvergütung kein Vergütungsrisiko trägt. Die Folgen dieser Rechtsprechungsänderung sind noch nicht in allen Einzelheiten absehbar. Fest steht aber schon heute: Mit der Rechtssicherheit im Bereich der Besteuerung der Aufsichtsratsvergütung ist es erst einmal vorbei. Das aktuelle Urteil des BFH wird für viele Aufsichtsratsmitglieder und Gesellschaften eine Abkehr von der bisherigen, langjährigen Praxis des Umsatzsteuerausweises mit sich bringen. In anderen Fällen wird zunächst unklar bleiben, ob eine Umsatzsteuerpflicht gegeben ist oder nicht. Offen ist schließlich, wie sich das BFH-Urteil auf zurückliegende Steuerjahre auswirken wird.
Der entschiedene Streitfall
In seiner Pressemitteilung vom 06.02.2020 erläutert der BFH den Sachverhalt und seine Entscheidung kurz und prägnant wie folgt:
„Der Kläger war leitender Angestellter der S-AG und zugleich Aufsichtsratsmitglied der E-AG, deren Alleingesellschafter die S-AG war. Nach der Satzung der E-AG erhielt jedes Aufsichtsratsmitglied für seine Tätigkeit eine jährliche Festvergütung von 20.000 € oder einen zeitanteiligen Anteil hiervon. Der Kläger wandte sich gegen die Annahme, dass er als Mitglied des Aufsichtsrats Unternehmer sei und in dieser Eigenschaft umsatzsteuerpflichtige Leistungen erbringe. Einspruch und Klage zum Finanzgericht hatten keinen Erfolg.
Demgegenüber gab der BFH der Klage statt. Er begründete dies mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) zur Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, die bei der Auslegung des nationalen Rechts zu berücksichtigen sei. Nach der EuGH-Rechtsprechung übe das Mitglied eines Aufsichtsrats unter bestimmten Voraussetzungen keine selbständige Tätigkeit aus. Maßgeblich ist, dass das Aufsichtsratsmitglied für Rechnung und unter Verantwortung des Aufsichtsrats handelt und dabei auch kein wirtschaftliches Risiko trägt. Letzteres ergab sich in dem vom EuGH entschiedenen Einzelfall daraus, dass das Aufsichtsratsmitglied eine feste Vergütung erhielt, die weder von der Teilnahme an Sitzungen noch von seinen tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden abhängig war.
Dem hat sich der BFH in seinem neuen Urteil unter Aufgabe bisheriger Rechtsprechung für den Fall angeschlossen, dass das Aufsichtsratsmitglied für seine Tätigkeit eine Festvergütung erhält. Ausdrücklich offengelassen hat der BFH, ob für den Fall, dass das Aufsichtsratsmitglied eine variable Vergütung erhält, an der Unternehmereigenschaft entsprechend bisheriger Rechtsprechung festzuhalten ist.“
Der vorangegangene EuGH-Fall
In dem vom BFH in Bezug genommenen EuGH-Urteil IO vom 13.06.2019 (Rs. C-420/18, EU:C:2019:490) führt der EuGH aus, dass zwar kein Unterordnungsverhältnis hinsichtlich der Arbeitsbedingungen i.S.v. Art. 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorliege, weil die Aufsichtsratsmitglieder in dem entschiedenen Fall keinen Weisungen des Vorstands unterlagen und auch innerhalb des Aufsichtsrats unabhängig waren. Es liege aber ein Unterordnungsverhältnis i.S.v. Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie vor, weil die Aufsichtsratsmitglieder weder im eigenen Namen noch für eigene Rechnung oder in eigener Verantwortung handelten. Es erweise sich, dass sie „individuell weder die Verantwortung tragen, die sich aus den in gesetzlicher Vertretung der Stiftung vorgenommenen Handlungen des Aufsichtsrats ergibt, noch für Schäden haften, die sie Dritten in Wahrnehmung ihrer Aufgaben verursachen, und damit nicht in eigener Verantwortung handeln“. Zudem gehe mit der ausgeübten Tätigkeit keinerlei wirtschaftliches Risiko einher, weil das Aufsichtsratsmitglied eine feste Vergütung beziehe, die weder von seiner Teilnahme an Sitzungen noch von seinen tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden abhängt. Überdies scheine auch eine von den Aufsichtsratsmitgliedern in Ausübung ihrer Tätigkeit begangene Fahrlässigkeit keine unmittelbaren Auswirkungen auf ihre Vergütung zu haben.
Fehlendes wirtschaftliches Risiko bei Fehlen variabler Vergütungsbestandteile
Der BFH schließt sich dem vorbezeichneten EuGH-Urteil (nur?) für den Fall an, dass das Aufsichtsratsmitglied kein wirtschaftliches Risiko trägt. Dies ist laut BFH dann der Fall, wenn das Aufsichtsratsmitglied eine jährlich gleich hohe Festvergütung erhält, die keinerlei variable Vergütungsbestandteile aufweist. Beispielhaft verweist der BFH an dieser Stelle auf § 113 Abs. 3 AktG. Gemeint ist damit offensichtlich die zum Zeitpunkt des Urteils noch geltende alte Fassung, die regelte, wie ein den Aufsichtsratsmitgliedern etwa gewährter Anteil am Jahresgewinn zu berechnen ist. Diese Regelung wurde mit dem zum 01.01.2020 in Kraft getretenen ARUG II vollständig gestrichen, da sie laut Regierungsbegründung überflüssig und überholt war. Die Neuregelung sieht im Hinblick auf die 2. ARRL turnusmäßige Beschlussfassungen der Hauptversammlung über die Vergütung und das Vergütungssystem für den Aufsichtsrat vor, ohne dass speziell auf variable Vergütungsbestandteile abgestellt wird. Durch den Wegfall des § 113 Abs. 3 AktG a.F. eröffnet sich zwar ein größerer Gestaltungsspielraum für die konkrete Ausgestaltung von variablen Bestandteilen in der Aufsichtsratsvergütung. Allerdings bleibt die Sinnhaftigkeit variabler Bestandteile in der Aufsichtsratsvergütung im Aktienrecht weiterhin umstritten. Eine reine Fixvergütung dürfte im Trend liegen (vgl. G.18 DCGK 2020).
Aus dem Tatbestand des BFH-Urteils ergibt sich, dass die Satzung im Streitfall neben der jährlichen Festvergütung eine Erstattung der durch die Ausübung des Amtes entstehenden Auslagen vorsah. Einen variablen Vergütungsbestandteil sah der BFH in dieser konkreten Auslagenerstattung offensichtlich nicht. Offen bleibt, wie der BFH es z.B. beurteilen würde, wenn statt einer konkreten Auslagenerstattung die Zahlung eines pauschalen Sitzungsgeldes vorgesehen ist.
Vor dem Hintergrund des EuGH-Urteils IO hat der BFH zudem darauf hingewiesen, dass das Aufsichtsratsmitglied (auch) im vorliegenden Fall nur an den durch Beschluss zu treffenden Entscheidungen des Aufsichtsrats mitwirkte (§ 108 Abs. 1 AktG), und dass fahrlässiges Handeln auf die Vergütung keinen unmittelbaren Einfluss habe, sondern „nur“ eine Verantwortlichkeit nach § 116 AktG begründet.
Auswirkungen auf zurückliegende Besteuerungszeiträume ungewiss
Die Finanzverwaltung hat sich bislang zu der neuen BFH-Entscheidung, die erst am 06.02.2020 veröffentlicht wurde, noch nicht geäußert. Im Grundsatz gilt die neue Rechtsprechung auch für zurückliegende Besteuerungszeiträume. Dies gilt insbesondere, weil auch die neue EuGH-Rechtsprechung für Altjahre gilt.
Das eigentliche steuerliche Problem ist folgendes: Haben Aufsichtsratsmitglieder Rechnungen mit Umsatzsteuer gestellt, ohne nach neuer Lesart des BFH tatsächlich Unternehmer zu sein, entfällt der Vorsteuerabzug bei der Gesellschaft rückwirkend. Die Aufsichtsratsmitglieder haben zwar grundsätzlich die Möglichkeit, die Rechnungen zu ändern und bzw. zu stornieren. Dies geht jedoch grundsätzlich nur, soweit bei der jeweiligen Gesellschaft die Umsatzsteuer bzw. der Vorsteuerabzug noch geändert werden kann.
Um eine Änderungswelle zu verhindern bzw. abzumildern, hätte die Finanzverwaltung die Möglichkeit, für die Vergangenheit die Beibehaltung der bisherigen Praxis zu ermöglichen. Es ist jedoch völlig ungewiss, ob die Finanzverwaltung dies tun wird. Falls die Finanzverwaltung nicht reagiert, sollten Aufsichtsratsmitglieder ihre Rechnungen rückwirkend ändern. Denn eine Besonderheit des BFH-Falls bestand darin, dass die Gesellschaft die Aufsichtsratsvergütung im Wege einer Gutschriftsrechnung abgerechnet hatte. Für diesen Fall hat der BFH entschieden, dass die Umsatzsteuer in der falschen Rechnung nicht nach § 14c Abs. 2 UStG geschuldet werde. In den Fällen, in denen das Aufsichtsratsmitglied selber eine Rechnung gestellt hat (also keine Gutschriftsrechnung vorliegt), dürfte dies nicht ohne weiteres gelten. Dies würde bedeuten, dass das Aufsichtsratsmitglied bei eigener Rechnungstellung die Umsatzsteuer nach § 14c Abs. 2 UStG schuldet. Bei der Gesellschaft wäre diese Umsatzsteuer jedoch nicht abzugsfähig, da eine falsche Rechnung vorliegt. Im Ergebnis würde dies zu einer zusätzlichen Umsatzsteuerlast führen. Diese hätte die Gesellschaft zu tragen, da ihr aus den Rechnungen – soweit die Jahre noch offen sind – der Vorsteuerabzug versagt würde. Es bleibt abzuwarten, ob die Finanzverwaltung hier mit Entgegenkommen reagiert.
Dessen ungeachtet sei allen Beteiligten – Aufsichtsratsmitgliedern und insbesondere den Gesellschaften – dringend empfohlen, gegen die entsprechenden Umsatzsteuerbescheide vorsorglich Einspruch einzulegen. Denn nur dann ist möglicherweise eine Steuerkorrektur bzw. eine Änderung der Rechnungen möglich.