Das Recht eines Unternehmers auf Vorsteuerabzug ist ein fundamentaler Grundsatz und integraler Bestandteil des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. Der EuGH hatte im Rahmen eines vom FG Hamburg eingereichten Vorabentscheidungsersuchens über den Zeitpunkt des Vorsteuerabzugs bei Leistungen durch einen Ist-Versteuerer zu entscheiden. Das FG Hamburg hatte Zweifel, ob die aktuelle Regelung des deutschen Umsatzsteuerrechts im Einklang mit der unionsrechtlichen Vorgabe steht. Im Ergebnis hat der EuGH diese Zweifel bestätigt und der nationalen Regelung eine Absage erteilt.
Nationale Regelung
Gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG entsteht das Recht des Leistungsempfängers auf Vorsteuerabzug, wenn die Lieferung oder sonstige Leistung an ihn ausgeführt worden ist und ihm eine ordnungsgemäße Rechnung vorliegt.
Wann die Umsatzsteuer entsteht, regelt § 13 UStG. Danach entsteht die Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen bei der Berechnung der Steuer nach vereinbarten Entgelten mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen ausgeführt worden sind (vgl. § 13 Abs. 1 Nr.1 Buchst. a Satz 1 UStG). Berechnet der Unternehmer die Umsatzsteuer hingegen nach vereinnahmten Entgelten, so entsteht die Steuer unabhängig vom Leistungszeitpunkt mit der Vereinnahmung des Entgelts für die jeweilige Leistung (vgl. § 13 Abs. 1 Nr.1 Buchst. b UStG).
Das deutsche Umsatzsteuerrecht geht vom Grundsatz der Sollbesteuerung (Besteuerung nach vereinbarten Entgelten, § 16 Abs. 1 UStG) aus. Unter bestimmten Voraussetzungen können Unternehmer jedoch auch die Ist-Besteuerung (Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten, § 20 UStG) anwenden.
Beispiel: Unternehmer 1 erbringt im Monat 01 eine steuerpflichtige Dienstleistung an den vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmer 2. Die entsprechende Rechnung geht dem Unternehmer 2 noch im Monat 01 zu. Die Bezahlung erfolgt im Monat 02.
- Unternehmer 1 berechnet die Umsatzsteuer nach vereinbarten Entgelten
Die Umsatzsteuer für die Dienstleistung entsteht mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums der Leistungserbringung im Monat 01. Das Recht auf Vorsteuerabzug durch Unternehmer 2 entsteht mit Leistungsbezug und Erhalt der Rechnung ebenfalls im Monat 01. Auf den Zahlungszeitpunkt im Monat 02 kommt es nicht an. - Unternehmer 1 berechnet die Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten
Die Umsatzsteuer für die Dienstleistung entsteht mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem das Entgelt vereinnahmt wurde (Monat 02). Das Recht auf Vorsteuerabzug durch Unternehmer 2 entsteht mit Leistungsbezug und Erhalt der Rechnung im Monat 01. Auf den Zahlungszeitpunkt im Monat 02 kommt es für den Vorsteuerabzug nicht an.
Anhand dieses Beispiels wird ersichtlich, dass die Vorschrift über die Ist-Versteuerung i.S.d. § 20 UStG keine Auswirkungen auf den Zeitpunkt des Vorsteuerabzugs durch den Leistungsempfänger hat.
EuGH-Urteil vom 10.02.2022 – Rs. C-9/20
Im Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache C-9/20, Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136, hat sich der EuGH mit der Frage auseinandergesetzt, ob die aktuelle Regelung des deutschen Umsatzsteuerrechts, wonach der Vorsteuerabzug auch dann bereits im Zeitpunkt des Bezugs der Leistung möglich ist, wenn der Leistende als Ist-Versteuerer sein Entgelt noch nicht erhalten hat und die von ihm entstandene Steuer noch nicht entstanden ist, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
Sachverhalt
In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt ging es um einen Rechtsstreit zwischen einer grundstücksvermietenden GbR (Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße) und dem für diese zuständigen Finanzamt. Die GbR vermietete ein Grundstück, welches sie ihrerseits anmietete. Die beiden Vermieter hatten für ihre Vermietungsleistung zulässigerweise zur Umsatzsteuerpflicht optiert. Sowohl bei der GbR als auch bei ihrer Vermieterin handelte es sich um Ist-Versteuerer. Mit dem Mietvertrag war die GbR im Besitz einer ordnungsgemäßen Dauerrechnung. Ab dem Jahr 2004 wurden die Mietzahlungen der Grundstücksgemeinschaft teilweise gestundet. Mietzahlungen für die Jahre 2009 bis 2012 wurden teilweise erst in den Jahren 2013 bis 2016 geleistet. Das Recht auf Vorsteuerabzug aus den entsprechenden Vermietungsleistungen machte die GbR, unabhängig vom Mietzeitraum, für den die Zahlungen bestimmt waren, immer in dem Voranmeldezeitraum bzw. Kalenderjahr geltend, in dem die Zahlung erfolgte. Das Finanzamt vertrat die Auffassung, dass das Recht auf Vorsteuerabzug mit Ausführung der Vermietungsleistung entstanden sei und daher jeweils für den entsprechenden Zeitraum hätte geltend gemacht werden müssen. Es wurden entsprechend geänderte Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2013 bis 2016 erlassen. Aufgrund des Eintritts der Festsetzungsverjährung war ein Vorsteuerabzug in früheren Jahren teilweise nicht mehr möglich. Die Auffassung des Finanzamtes entspricht der aktuellen Rechtslage in Deutschland.
Entscheidungsgründe
Der EuGH hat nun anders entschieden und festgestellt, dass die nationale Regelung nicht den unionsrechtlichen Vorgaben entspricht. Hierzu verweist das Gericht insbesondere auf Art. 167 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSyStRL), der die allgemeine Regel aufstellt, dass das Recht des Leistungsempfängers auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch gegen den Leistungserbringer auf die entsprechende abziehbare Steuer entsteht. Im Falle einer Leistung durch einen Ist-Versteuer ist dies im Zeitpunkt der Zahlung. Die Überlegung, dass es sich bei Art. 167 MwStSystRL nicht um eine strikte Vorgabe, sondern lediglich um eine „Leitidee“ handele, verwirft der EuGH.
Unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben sowie des aktuellen EuGH-Urteils würde sich eine umsatzsteuerrechtliche Beurteilung des obigen Beispiels bei der Ist-Versteuerung abweichend wie folgt ergeben:
Unternehmer 1 berechnet die Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten
Die Umsatzsteuer für die Dienstleistung entsteht mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem das Entgelt vereinnahmt wurde (Monat 02). Das Recht auf Vorsteuerabzug durch Unternehmer 2 entsteht ebenfalls im Monat 02, mit Vereinnahmung des Entgeltes durch Unternehmer 1.
Folgen für die Praxis
Da der EuGH die bisherige Praxis im deutschen Umsatzsteuerrecht für unionsrechtswidrig erklärt hat, muss die deutsche Rechtslage an die unionsrechtliche Vorgabe angepasst werden. Betroffen von einer solchen Änderung sind alle vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmer, die Leistungen von einem Ist-Versteuerer beziehen. Zukünftig wird ein Vorsteuerabzug aus Leistungen solcher Unternehmer erst bei Zahlung möglich sein. Dafür muss für den Leistungsempfänger erkennbar sein, dass der leistende Unternehmer seine Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten berechnet. Andernfalls wäre dem Leistungsempfänger ein Rückschluss auf den zutreffenden Zeitpunkt für den Vorsteuerabzug nicht möglich. Hierfür wäre denkbar, dass die erforderlichen Rechnungsangaben des § 14 Abs. 4 UStG um einen weiteren Hinweis, nämlich die Eigenschaft des Leistenden als „Ist-Versteuerer“, ergänzt werden. So sieht es auch das Unionsrecht bei der Kassenbuchführung vor (vgl. Art. 226 Nr. 7a MwStSyStRL).
Das Urteil bezieht sich auf den Vorsteuerabzug aus Leistungen eines Ist-Versteuerers. Ob es sich bei dem Leistungsempfänger um einen Soll- oder Ist-Versteuerer handelt, spielt keine Rolle.
Bis eine Änderung durch den deutschen Gesetzgeber oder die Finanzverwaltung erfolgt ist, können betroffene Unternehmer die aktuelle Regelung weiterhin anwenden.