Auch 13 Jahre nach Einführung der Abgeltungsteuer bleiben noch immer viele Fragen zur Besteuerung von Kapitaleinkünften offen. Ziel des Gesetzgebers war es, das Besteuerungsverfahren für Kapitaleinkünfte drastisch zu vereinfachen und eine umfassende Wertzuwachsbesteuerung für sämtliche Kapitalanlagen einzuführen. Als „Dauerbrenner“ gilt in diesem Zusammenhang die Frage nach der Berücksichtigung von Verlusten aus wertlosen Kapitalanlagen als (negative) Einkünfte aus Kapitalvermögen – eine Frage, die von der Finanzverwaltung nur zu gerne abgelehnt worden ist.
Verluste aus wertlosen Kapitalanlagen
In der jüngeren Vergangenheit war die Behandlung von Verlusten aus wertlosen Kapitalanlagen mehrfach Gegenstand der BFH-Rechtsprechung (vgl. BFH vom 09.07.2019 – X R 9/17, DB 2020 S. 89; vgl. Baumgartner, Steuerboard vom 24.07.2020; BFH vom 29.09.2020 – VIII R 9/17, DB 2021 S. 599; vgl. Herrmann, Steuerboard vom 21.04.2021). Der BFH hatte sich in den Urteilsfällen gegen die Meinung der Finanzverwaltung gestellt und bestätigt, dass die Verluste als (negative) Einkünfte aus Kapitalvermögen anzuerkennen sind. Die Finanzverwaltung hat sich dieser Auffassung mittlerweile angeschlossen und mit BMF-Schreiben vom 03.06.2021 den „Abgeltungsteuererlass“ (BMF vom 18.01.2016 (BStBl. I 2016 S. 85) im Hinblick auf die BFH-Rechtsprechung geändert.
Eine dieser Anpassungen betraf die Steuerbarkeit des insolvenzbedingten Untergangs von Aktien. Hierüber hatte der VIII. Senat mit Urteil vom 17.11.2020 – VIII R 20/18 (DB 2021 S. 541) entschieden. Dabei bestätigte der BFH, dass der Entzug von Aktien aufgrund der Auflösung und Abwicklung einer inländischen AG durch ein Insolvenzverfahren mit anschließender Löschung im Register mit einer Veräußerung gleichzustellen und ein etwaiger Verlust somit zu berücksichtigen ist.
Der BFH folgte mit diesem Urteil konsequent seiner bisherigen Rechtsprechung mit der Begründung, dass der Gesetzgeber mit Einführung der Abgeltungsteuer eine vollständige Erfassung aller Wertveränderungen von Kapitalanlagen erreichen wollte. Hierzu zählen nicht nur Gewinne, sondern auch Verluste.
Das Urteil vom 17.11.2020: Entscheidungsgründe des BFH
Dem Urteilsfall lag weder ein allgemeiner Veräußerungstatbestand des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG noch ein Ersatztatbestand (Einlösung, Rückzahlung und Abtretung) gem. § 20 Abs. 2 Satz 2 EStG zugrunde. Es handelte sich um einen insolvenzbedingten Entzug von im Privatvermögen gehaltenen Aktien, mit einer Beteiligungsquote von unter einem Prozent. Für Beteiligungen an Kapitalgesellschaften mit einer Beteiligungsquote von über einem Prozent ist die Verlustberücksichtigungsmöglichkeit bereits gem. § 17 Abs. 4 EStG gesetzlich verankert.
Der BFH stellte fest, dass § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 2 EStG eine planwidrige Regelungslücke enthält, da das Gesetz für den Untergang des Mitgliedschaftsrechts des Aktionärs aufgrund einer insolvenzbedingten Löschung der AG keinen Realisationstatbestand vorsieht und der Gesetzgeber mit Einführung der Abgeltungsteuer alle positiven und negativen Wertveränderungen von Kapitalanlagen, die nach dem 31.12.2008 angeschafft worden sind, der Besteuerung unterwerfen wollte. Der BFH schließt diese Lücke durch eine analoge Anwendung des Veräußerungstatbestands und einer daraus resultierenden steuerlichen Berücksichtigung des Verlusts im Rahmen der Einkünfte aus Kapitalvermögen.
Seine Entscheidung begründet der BFH auch damit, dass der Steuerpflichtige unstreitig bei Abzeichnung der Liquidation oder Insolvenz einer AG steuerbare Aktienveräußerungsverluste erzielen könnte, indem er seine Aktien gegen ein geringes Entgelt oder bei Wertlosigkeit auch ohne Entgelt auf einen Dritten übertragen würde (vgl. Herrmann, Steuerboard vom 21.04.2021). Eine Leistungsfähigkeitsminderung, die dem Anteilseigner durch Entzug seiner Aktie aufgrund des Erlöschens einer AG in der Insolvenz entsteht, ist mit derjenigen durch Veräußerung einer wertlosen Aktie vergleichbar. Gemäß des Leistungsfähigkeits- und Folgerichtigkeitsprinzips sind Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit nach den Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 GG gleich zu besteuern und der erlittene Verlust analog zu erfassen.
Praxisfolgen
Für Veranlagungszeiträume von 2009 bis 2019 unterliegt der insolvenzbedingte Untergang von Aktien durch Erlöschen des Mitgliedschaftsrechts der speziellen Verlustverrechnungsbeschränkung (dem Grunde nach) für Aktienveräußerungsverluste gem. § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG. Aktienveräußerungsverluste dürfen nur mit Aktienveräußerungsgewinnen verrechnet werden. Die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Norm hat der BFH dem BVerfG vorgelegt (anhängig beim BVerfG: 2 BvL 3/21). In der Veranlagung wird daher ein Vorläufigkeitsvermerk für sämtliche Einkommensteuerfestsetzungen ab dem Veranlagungszeitraum 2019 bei nicht verrechneten Verlusten aus Veräußerung von Aktien aufgenommen (BMF-Schreiben vom 31.01.2022).
Für Veranlagungszeiträume ab 2020 hat der Gesetzgeber mit § 20 Abs. 6 Satz 6 EStG eine eigenständige Verlustverrechnungsbeschränkung (der Höhe nach) für Verluste aus wertlosen Kapitalanalgen eingeführt. Diese dürfen nur in Höhe von 20.000 € mit Einkünften aus Kapitalvermögen verrechnet werden, weshalb eine Besteuerung „fiktiver Gewinne“ droht.
Die Entscheidung des BVerfG darf mit Spannung erwartet werden, da über die Rechtmäßigkeit der Verlustbeschränkung für Aktien entschieden wird und sich daraus hoffentlich auch Rückschlüsse für die Rechtmäßigkeit der Verrechnungsbeschränkung für Verluste aus wertlosen Kapitalanlagen ergeben können. In der Praxis empfiehlt es sich daher, entsprechende Verfahren offen zu halten.
Übertragbarkeit auf im Privatvermögen gehaltene, nicht börsennotierte Beteiligungen
Es stellt sich die Frage, inwieweit die Entscheidungsgrundsätze des Urteils über die Steuerbarkeit des insolvenzbedingten Untergangs von Aktien auch auf wertlose, im Privatvermögen gehaltene, nicht börsennotierte Beteiligungen mit einer Beteiligungsquote von unter einem Prozent übertragbar sein können.
Eine planwidrige Regelungslücke sollte auch für den insolvenz- oder liquidationsbedingten Untergang des Mitgliedschaftsrechts des Anteilseigners an einer nicht börsennotierten Gesellschaft vorliegen. Eine Regelung für eine insolvenz- oder liquidationsbedingte Löschung einer solchen Beteiligungen ist ebenso wenig als Realisationstatbestand in § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 2 EStG erfasst. Auch hier wollte der Gesetzgeber alle positiven und negativen Wertveränderungen der Besteuerung unterwerfen.
Genauso könnte der Steuerpflichtige bei Abzeichnung der Liquidation oder Insolvenz einer nicht börsennotierten Kapitalgesellschaft steuerbare Veräußerungsverluste erzielen, indem er seine Beteiligung gegen ein geringes Entgelt oder bei Wertlosigkeit auch ohne Entgelt auf einen Dritten überträgt.
Die Entscheidungsgrundsätze des Urteils vom 17.11.2020 sollten folglich auch auf Verluste aus wertlosen, im Privatvermögen gehaltenen, nicht börsennotierten Beteiligungen mit einer Beteiligungsquote von unter einem Prozent übertragbar sein. Somit wären diese auch als Verluste aus Kapitalvermögen zu berücksichtigen und es würde seit dem Veranlagungszeitraum 2020 zudem die Verlustbeschränkung gem. § 20 Abs. 6 Satz 6 EStG greifen. Da der BFH über diese Rechtsfrage jedoch noch nicht entschieden hat, ist für die Praxis zu empfehlen, die Beteiligung bei Abzeichnung der Liquidation oder Insolvenz an einen Dritten zu veräußern, um die Veräußerungsverluste berücksichtigen zu können. Alternativ bietet es sich an, unter Verweis auf das Urteil vom 17.11.2020, einen Verlust aus Kapitalvermögen zu erklären.
Insbesondere bei Private Equity-Strukturen sollte diese Übertragbarkeit von praktischer Bedeutung sein. Gerade in diesem Bereich werden unter Berücksichtigung der Bruchteilsbetrachtung häufig Beteiligungen an nicht börsennotierten Unternehmen mit einer Beteiligungsquote von unter einem Prozent gehalten. Die steuerlichen Verluste aus wertlosen Beteiligungen an Kapitalgesellschaften sollten daher im Blick behalten und geltend gemacht werden.