Vom parlamentarischen Gesetzgeber erlassene und im Bundesgesetzblatt verkündete Gesetze müssen von der vollziehenden Gewalt befolgt werden, selbst wenn Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit bestehen. Nur Gerichte können im Einzelfall Gesetze vorübergehend nicht anwenden, müssen aber dann das Gesetz dem BVerfG vorlegen, welches verbindlich über die Gültigkeit zu entscheiden hat (Art. 100 Abs. 1 GG). Die Bindung der Verwaltung an Parlamentsgesetze (Art. 20 Abs. 3 GG) und die alleinige Verwerfungskompetenz des BVerfG gehören zu den elementaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen, so dass es zunächst recht seltsam anmutet, wenn sich die Finanzverwaltung unter Hinweis auf Zweifeln an der Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit dem Europäischen Recht einseitig von der Gesetzesbindung löst. So geschehen im Fall des § 8c Abs. 1a KStG, der Ausnahmeregelung für den Verlustuntergang bei schädlichen Beteiligungserwerben (sog. Sanierungsprivileg).
Mit Schreiben vom 24. 2. 2010 BStBl. I 2010 S. 482) hat die Europäische Kommission Bedenken geäußert, dass es sich bei dem Sanierungsprivileg des § 8c Abs. 1a KStG um eine unerlaubte Beihilfe handelt und ein förmliches Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV (früher Art. 88 EGV) eingeleitet. Das BMF hat daraufhin in seinem Schreiben vom 30. 4. 2010 (BStBl. I 2010 S. 488 = DB 2010 S. 1038) die gesetzliche Regelung für nicht mehr anwendbar erklärt, bis eine abschließende Entscheidung durch die Kommission ergeht.
Das BMF beruft sich auf den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts. Dieser vom EuGH entwickelte kollisionsrechtliche Grundsatz bindet jedes Organ der Mitgliedstaaten und ist von Amts wegen zu beachten. Anders als im Verhältnis von einfachem Recht und Verfassungsrecht vertritt der EuGH die Auffassung, dass die Verwaltung ebenso wie ein nationales Gericht verpflichtet ist, diejenigen Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, die mit Europäischem Gemeinschaftsrecht nicht im Einklang stehen. Praktische Bedeutung erlangte dieser Ansatz u. a. im Zusammenhang mit der DocMorris-Entscheidung (EuGH, Urteil vom 11. 12. 2003 – Rs. C-322/01 – Dt. Apothekerverband e.V./DocMorris: Der saarländische Gesundheitsminister Josef Hecken erteilte 2006 die Genehmigung für eine Internetapotheke der niederländischen Aktiengesellschaft DocMorris entgegen einschlägiger Vorschriften des deutschen Apothekengesetzes. In seinem Urteil stellte der EuGH eine Verletzung des Art. 36 AEUV (vormals Art. 30 EGV) durch § 43 Abs. 1 Arzneimittelgesetz fest und bestätigte somit Heckens Entscheidung.
Dennoch ist die Sachlage hier etwas anders. Denn Bundesregierung und Finanzverwaltung gehen davon aus, dass die Sanierungsklausel keine unzulässige Beihilfe darstellt, dass die Regelung vielmehr systemgerecht den Verlustabzug zulasse, da eine Missbrauchsgefahr – wie bei bloßen Mantelkäufen – nicht gegeben sei. Die Kommission hat nur das förmliche Prüfungsverfahren nach Art. 108 AEUV eingeleitet. Allerdings darf nach Art. 108 Abs. 3 AEUV der Mitgliedstaat die „beabsichtigte“ Maßnahme nicht durchführen (sog. Stillhalteverpflichtung). Hier ist aber keine Maßnahme „beabsichtigt“, sondern der nationale Gesetzgeber hat in Kenntnis und nach Prüfung der europarechtlichen Problematik die Finanzverwaltung bereits verpflichtet, die Sanierungsklausel anzuwenden, nachdem er im Gesetzgebungsverfahren zum Ergebnis gekommen ist, dass eine unzulässige Beihilfe nicht vorliegt. Geht das Europarecht so weit, auch in solchen vom Gesetzgeber als „europarechtskonform“ beurteilten Regelungen die Gesetzesbindung der Verwaltung aufzulösen? Gebietet es nicht der Respekt vor den nationalen Parlamenten, hier zumindest den Abschluss des förmlichen Prüfverfahrens der Kommission nach Art. 108 Abs. 2 AEUV abzuwarten. Anders ausgedrückt: Verpflichtet Art. 108 Abs. 3 AEUV auch dann zu vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Kommission, wenn der nationale Gesetzgeber schon bindende Normen geschaffen hat und dieser Gehorsam nur über die „Brechung“ des gesetzgeberischen Willens gezollt werden kann?
Man wird die Frage wohl bejahen müssen, so sehr eine solche Antwort auch verfassungsrechtlichem Grundverständnis der Bindung der Verwaltung an gültige Gesetze widerspricht. Zwar hat das VG Saarlouis im Vorfeld der DocMorris-Entscheidung von der „Gefahr einer ‚anarchistischen’ Verwerfungspraxis unter Missachtung der Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers“ gesprochen und auch im Schrifttum wird mitunter bezweifelt, dass die Verwaltung „eigenmächtig“, d. h. ohne richterlichen Akt gültige innerstaatliche Gesetze als unverbindlich ansehen dürfe. Auf der anderen Seite ist aber die Verwerfungsbefugnis der Verwaltung vorläufig und beschränkt sich auf die Fälle der zumindest von der Kommission ernsthaft in Betracht gezogenen Gemeinschaftsrechtswidrigkeit.
Dennoch: Die Kommission ist als Hüterin der Verträge Teil der Exekutive, nicht der Judikative oder Legislative. Ein ungutes Gefühl bleibt, wenn die nationale Verwaltung aufgrund der ausschließlich im Bereich der – europäischen – Verwaltung gebildeten Rechtsmeinung bestehende Gesetze nicht anwendet und sich damit über den Gesetzgeber stellt. Solche Konflikte entscheiden Gerichte, solange sich diese nicht damit befasst haben, hat das Gesetz den Anschein der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht. Aber das ist nur unser Verfassungsverständnis, der Fall zeigt, wie sehr das Europarecht selbst Grundfesten der staatlichen Ordnung langsam aber doch nachhaltig verändert.
Sehr geehrter Herr Birk,
beim von Ihnen zitierten „DocMorris“-Fall ist Ihnen eine Verwechslung unterlaufen: das „erste DocMorris“-Urteil (C-322/01 vom 11. 12. 2003) befaßt sich mit dem Versandhandel von Arzneimitteln (§ 43 AMG) – hier befand der EuGH, daß lediglich ein Versandverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel gerechtfertigt werden könne. Im „zweiten DocMorris“-Urteil (C-171/07 vom 19. 5. 2009) ging es dann – wie von Ihnen im Text dargestellt – um das apothekenrechtliche Fremdbesitzverbot (§§ 1, 2, 7, 8 ApoG). Der EuGH stellte hier fest, daß dieses Verbot europarechtskonform ist – Herr Hecken hatte somit unrecht… Die Vorlagefrage zum Anwendungsvorrang mußte der EuGH also gar nicht beantworten.
Die Widersprüchlichkeit in der Steuerpolitik ist eine wichtige Ursache für die Verdrossenheit.
– die Bürger erleben den Alltag mit Finanzämern (vgl. Youtube mit Sichwörtern “Jagdfieber Finanzamt”
– andererseits die Sonntagsreden der Steuervereinfachung und Wirtschaftsförderung.
Meine Anregung: Die Politik sollte sich vom Steuerrecht fern halten und andere Schwerpunkte setzen, wo sie reale Ergebnisse erzielen könnte. Für das Steuerrecht sind die meisten Politiker ohne die notwendige Konseqenz und Ausdauer.