Es gibt Umsätze, die von der Umsatzsteuer befreit sind. Die meisten dieser Befreiungen führen dazu, dass der leistende Unternehmer keine Vorsteuern aus Eingangsleistungen abziehen kann, welche mit den steuerbefreiten Umsätzen direkt oder indirekt in Zusammenhang stehen, so z.B. die in § 4 Nr. 8–24 UStG genannten Befreiungen. Dazu gehören im Wesentlichen Bank-, Versicherungs- und Finanzumsätze, Vermietungs- und Heilumsätze sowie weitere soziale und kulturelle Umsätze.
Im Gegensatz zu diesen „abzugsschädlichen” Steuerbefreiungen stehen die nicht abzugsschädlichen Befreiungen in § 4 Nr. 1–7 und § 26 UStG. Sie haben – mit Ausnahme der Umsätze an NATO-Truppen – in der Regel einen Auslandsbezug. Hierunter fallen die Steuerbefreiungen für Ausfuhren, innergemeinschaftliche Lieferungen und Lohnveredelungen an Gegenständen der Ausfuhr, Umsätze für die Seeschifffahrt und für die Luftfahrt, grenzüberschreitende Beförderungen von Gegenständen und die Vermittlung solcher Umsätze.
Nun kann es vorkommen, dass ein Umsatz unter zwei Befreiungstatbestände fällt. Das bekannteste Lehrbuch-Beispiel hierfür ist die grenzüberschreitende Lieferung von menschlichen Organen, Menschenblut oder Frauenmilch. Die Lieferung dieser Gegenstände ist nach § 4 Nr. 17 UStG immer befreit, und zwar abzugsschädlich. Eine grenzüberschreitende Lieferung hingegen ist, wenn die formellen Erfordernisse erfüllt sind, nicht abzugsschädlich (§ 4 Nr. 1 UStG). Daher stellt sich die Frage, ob eine grenzüberschreitende Lieferung der genannten Gegenstände den Vorsteuerabzug ausschließt oder nicht.
In Deutschland ging die Finanzverwaltung seit langem davon aus, dass beim Zusammentreffen von abzugsschädlicher und nicht abzugsschädlicher Steuerbefreiung die nicht abzugsschädliche Vorrang hat, der Vorsteuerabzug also nicht beeinträchtigt wird.
Der deutsche Unternehmer, welcher menschliche Organen, Menschenblut oder Frauenmilch ins Ausland lieferte, konnte also die Umsatzsteuer auf seinen dazu gehörenden Eingangsleistungen abziehen. Umgekehrt musste ein deutscher Abnehmer dieser Gegenstände den Wareneingang nicht besteuern, denn sowohl die Einfuhr als auch der innergemeinschaftliche Erwerb der Gegenstände ist steuerfrei (§ 4b UStG). Im Ergebnis wurde der Lieferant von inländisch steuerbefreiten Gegenständen wegen der Grenzüberschreitung hinsichtlich der Vorsteuer wie ein normal steuerpflichtiger Unternehmer behandelt.
Leider sah der EuGH das anders und entschied mit Urteil vom 7. 12. 2006 (Rs. C-240/05, DB 2007 S. 91 [LS] – Eurodental) am Beispiel einer innergemeinschaftliche Lieferung von Zahnersatz, dass diese abzugsschädlich bleibe, weil die inländische Lieferung von Zahnersatz abzugsschädlich sei.
Das BMF hat nunmehr das Ergebnis der Erörterungen mit den obersten Finanzbehörden der Länder in einem Schreiben (vom 11. 4. 2011, IV D 3 – S 7130/07/10008 [2011/0294414], DB0414527) die Änderungen des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses bekannt gegeben, welche sich aus der Umsetzung der Rechtsprechung ergeben. Beim Zusammentreffen von abzugsschädlicher und nicht abzugsschädlicher Steuerbefreiung hat die abzugsschädliche Vorrang hat, der Vorsteuerabzug ist also nicht möglich. Dies gilt nicht nur für die Zukunft, sondern ist auf alle noch offenen Fälle anzuwenden.
Unternehmer, welchen aufgrund dieser geänderten Rechtsauffassung nun der Vorsteuerabzug für die Vergangenheit versagt wird, sollten für die Jahre bis einschließlich 2007 unbedingt eine abweichende Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen beantragen und diese ggf. gerichtlich durchsetzen. Zwar hat der BFH im Fall von Schönheits-Chirurgen, welche sich nachträglich der Umsatzsteuerpflicht ausgesetzt sahen, diesen in zwei Entscheidungen ein zu schützendes Vertrauen abgesprochen (Beschluss vom 26. 9. 2007 – V B 8/06, DB 2008 S. 107 und Urteil vom 7. 10. 2010 – V R 17/09).
Begründet wurde dies damit, ein Vertrauenstatbestand ergebe sich nicht bereits aus einem „Verwaltungsunterlassen“ (also der Nicht-Besteuerung von Schönheitsoperationen). Bei der Konkurrenz von Steuerbefreiungen ist die Lage aber anders, denn hier gibt es eine klare Verwaltungsregelung in Abschnitt 204 Abs. 5 UStR 2005, welche lautete: „Fällt ein Umsatz sowohl unter eine der in § 15 Abs. 3 Nr. 1 UStG bezeichneten Befreiungsvorschriften als auch unter eine Befreiungsvorschrift, die den Vorsteuerabzug ausschließt, z. B. die Ausfuhrlieferung von Blutkonserven, geht die in § 15 Abs. 3 Nr. 1 UStG aufgeführte Befreiungsvorschrift der anderen vor. Daher kann auch für diese Umsätze der Vorsteuerabzug beansprucht werden.” In den UStR 2008 und im Umsatzsteuer-Anwendungserlass fehlt dieser Absatz, sodass insoweit die Chancen auf Vertrauensschutz geringer – aber nicht notwendigerweise ausgeschlossen – sind.