Die Finanzgerichtsordnung (FGO) legt fest, dass der BFH wie jedes Finanzgericht einen Präsidenten haben muss. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FGO besteht das Gericht aus dem Präsidenten, den Vorsitzenden Richtern und weiteren Richtern in erforderlicher Anzahl. Auch das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) geht davon aus, dass die Gerichte einen Präsidenten haben. Der Präsident ist geborenes Mitglied des Gerichtspräsidiums (§ 21a GVG) neben weiteren Mitgliedern, die nach § 21b GVG gewählt werden müssen. Das Präsidium bestimmt die Besetzung der Spruchkörper, regelt die Vertretung und die Geschäftsverteilung. Der Präsident bestimmt selbst, welche richterlichen Aufgaben er wahrnimmt (§ 21e Abs. 1 Satz 3 GVG ). Doch der BFH hat derzeit keinen Präsidenten.
Seit dem 1. 4. 2011 ist die Stelle des Präsidenten des BFH vakant. Und dies nicht etwa aufgrund eines unvorhersehbaren Ereignisses. Der bisherige Präsident Wolfgang Spindler ist in Ruhestand getreten, ein Umstand, der wie kein anderer datumsgenau vorherbestimmt ist. Ein Nachfolger wurde dennoch bislang nicht ernannt. Ist es nur Nachlässigkeit des für die Ernennung zuständigen Bundesjustizministeriums, ist es ein hinzunehmender Mangel an politischer Abstimmung im Kabinett oder verbirgt sich dahinter auch ein staatsrechtliches Problem?
Nach Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut. Sie wird durch das BVerfG, durch die Bundesgerichte und die Gerichte der Länder ausgeübt. Der BFH ist ein Bundesgericht (Art. 95 Abs. 1 GG). Über die Berufung der Richter am BFH entscheidet der zuständige Minister, also die Bundesjustizministerin gemeinsam mit dem Richterwahlausschuss, dem auch Mitglieder des Bundestags angehören (Art. 95 Abs. 2 GG). Das Grundgesetz trifft jedoch keine Regelung über die Ernennung des Präsidenten.
Der Präsident hat eine Doppelstellung. Er ist sowohl Richter als auch Organ der Justizverwaltung. Als Richter hat er die Rolle des Vorsitzenden eines Senats und nimmt aktiv an der Rechtsprechung teil, indem er seine richterlichen Aufgaben wahrnimmt. Als Organ der Justizverwaltung übt er insbesondere die Dienstaufsicht über die Richter, Beamten und sonstigen Beschäftigen des Gerichts aus (§ 31 FGO). Aufgrund der Stellung des Präsidenten als Organ der Justizverwaltung ist die Bundesjustizministerin zuständig für die Ernennung des Präsidenten. Sie ist also in der Pflicht, dem Gericht einen Präsidenten zu geben. Damit kommt sie zugleich ihrer Aufgabe nach, die rechtsprechende Gewalt personell so auszustatten, dass diese ihren grundgesetzlichen Auftrag erfüllen kann.
Nun kann man einwenden, die rechtsprechende Gewalt funktioniere auch ohne Präsidenten. Das ist grundsätzlich richtig, aber dennoch offenbart sich in der Nichtbesetzung des Präsidentenstuhls eine Störung des Verhältnisses beider Staatsgewalten. Die Achtung vor der grundgesetzlich festgelegten Funktion der rechtsprechenden Gewalt und damit auch der Respekt vor dem unsere staatliche Ordnung konstituierenden Element der Gewaltenteilung gebietet es, die Gerichte so auszustatten, dass sie ihre Aufgaben ohne Einschränkung erfüllen können. Dazu zählt auch, die Wiederbesetzung der Stelle des Gerichtspräsidenten nicht über Gebühr hinauszuzögern.
Geplante Verzögerungen der Wiederbesetzung sind nicht nur gesetzeswidrig, sie verstoßen im Falle der Nichtbesetzung der Präsidenten- und Senatsvorsitzendenstelle – wie in einem Standardkommentar zum Gerichtsverfassungsgesetz nachzulesen ist – auch gegen die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters. Denn die bewusste zeitliche Verzögerung der Stellenbesetzung durch das verantwortliche Ministerium stellt keine hinzunehmende vorübergehende Vakanz dar, sondern beeinflusst gezielt die Besetzung des Präsidentensenats und offenbart eine Respektlosigkeit gegenüber einem Bundesgericht, die auch verfassungsrechtlich die Toleranzgrenze überschreitet.
Im Falle der Nichtbesetzung der Stelle des BFH-Präsidenten zeigt sich erneut das Dilemma, das die Abhängigkeit der Justizverwaltung von der Exekutive mit sich bringt. Vertreter der Richterschaft haben schon vor Jahren gefordert, die Geschäftsführungsaufgaben der Justiz im Wege der Selbstverwaltung in ihre eigenen Hände zu legen. Tatsächlich zeigt die bisher nicht erfolgte Besetzung des Präsidentenpostens, dass es gute Gründe für die „Abnabelung der Justiz von der Exekutive“ (Weber-Grellet, ZRP 2007 S. 156) gibt.
Zwar wird die Selbstverwaltung der Justiz in der Wissenschaft kritisch gesehen, da diese – anders als die Exekutive – nicht vom Parlament abhängig und deshalb nicht ausreichend demokratisch legitimiert sei (Wittreck, Die Verwaltung der dritten Gewalt, 2006, S. 660). Wie immer man zu dieser Auffassung stehen mag: Sie überzeugt jedenfalls dann nicht, wenn die Exekutive ihre Pflichten verletzt und den für die Justizverwaltung wesentlichen Leitungsposten nicht besetzt. Zumindest in solchen Fällen einer Funktionsstörung, die eine Wiederbesetzung verhindert, sollte das Gericht in der Lage sein, seinen Präsidenten in eigener Verantwortung zu bestimmen.