Am 29. 11. 2011 hat der EuGH sein lange erwartetes Urteil in der Rechtssache C-371/10, National Grid Indus, gesprochen. Es hat die niederländische Entstrickungsbesteuerung zum Gegenstand, lässt aber auch Rückschlüsse auf die europarechtliche Beurteilung der deutschen Entstrickungsbesteuerung zu.
Nach den durch das SEStEG in das deutsche Ertragsteuerrecht eingefügten Entstrickungsnormen kann anlässlich des Wegzugs von Steuerpflichtigen, die zur grenzüberschreitenden Verschiebung von Wirtschaftsgütern führt, eine Entstrickungsbesteuerung vorgenommen werden. Diese führt zur Aufdeckung stiller Reserven. Die Besteuerung wird allerdings durch Vorschriften wie § 4g EStG und § 36 Abs. 5 EStG auf fünf Jahre gestreckt.
Zunächst ist von Bedeutung, dass der Gerichtshof infolge der Entstrickungsbesteuerung eine Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit annimmt, jedoch eine Rechtfertigung zur Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse für möglich hält. Des Weiteren betrachtet der EuGH in Übereinstimmung mit der gesetzgeberischen Wertung etwa in § 4 Abs. 1 Satz 3 und 4 EStG den Wegzug von Steuerpflichtigen und die im Zuge dessen vorgenommenen Vermögensverschiebungen ins Ausland, etwa durch Überführung von Wirtschaftsgütern in ausländische Betriebsstätten, als Gefährdung mitgliedstaatlicher Besteuerungsrechte.
Von besonderer Bedeutung sind die Aussagen des Gerichtshofs zur Verhältnismäßigkeit mitgliedstaatlicher Entstrickungsregelungen. Hier stellt er zunächst fest, dass eine Entstrickungsbesteuerung geeignet ist, die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zu gewährleisten. Hinsichtlich der Erforderlichkeit differenziert der Gerichtshof zwischen der Steuerfestsetzung und der Einziehung der Steuer. Die Festsetzung der Steuer anlässlich des Grenzübertritts könne als verhältnismäßig angesehen werden. Das gelte auch dann, wenn keine späteren Wertminderungen mehr berücksichtigt würden. Mit Blick auf die deutschen Entstrickungsregelungen wird man also grundsätzlich eine Europarechtskonformität feststellen können, soweit es um die Anordnung der Besteuerung als solche und um die Steuerfestsetzung geht.
Anders liegt es möglicherweise bei der Einziehung der Steuer. Hier hält der EuGH die geltende niederländische Regelung für unverhältnismäßig. Komme es zu einer alternativlosen Sofortbesteuerung unter Aufdeckung der stillen Reserven, so sei diese Regelung nicht erforderlich, um das Steuersubstrat zu sichern. Aber auch die Steuerstundung unter Anordnung von Nachweispflichten sei allein keine Alternative. Vielmehr müsse im Fall der Niederlande ein Wahlrecht zwischen einer Sofortversteuerung und einer Stundung mit Nachweispflicht eingeräumt werden. Bei Steuerstundung könne der Mitgliedstaat auch eine Sicherheitsleistung fordern.
Was diese Aussagen für die deutschen Entstrickungsregelungen bedeuten, ist nicht eindeutig. In Deutschland ist keine Sofortversteuerung, sondern auf Antrag eine Streckung auf fünf Jahre vorgesehen. Ob dieser partielle Besteuerungsaufschub noch ausreicht, um zu einer europarechtlichen Beurteilung als erforderlich zu gelangen, lässt sich auf der Grundlage des vorliegenden Urteils nicht mit Gewissheit sagen. Für die Verhältnismäßigkeit lässt sich anführen, dass der EuGH das Bestreben erkennen lässt, einen praktischen Ausgleich zwischen dem Interesse der Steuerpflichtigen an einer möglichst schonenden Besteuerung von Wertsteigerungen und dem staatlichen Interesse an der Sicherung des Steuersubstrats herzustellen.
Dessen eingedenk könnte eine fünfjährige Streckung der Aufdeckung stiller Reserven als noch erforderlich anzusehen sein. Zudem normiert die deutsche Regelung derzeit keine Sicherheitsleistung und bleibt mithin unter dem, was der Gerichtshof noch für zulässig erachtet. Gegen eine Erforderlichkeit der deutschen Regelung könnte man möglicherweise anführen, dass sie nicht zu einer Stundung bis zum Realisationszeitpunkt, sondern nur zu einer recht kurzen zeitlichen Streckung führt. Der Gesetzgeber sollte vor diesem Hintergrund allerdings darüber nachdenken, die Streckung der Steuereinziehung auf zehn Jahre zu verlängern oder die Stundung wie im alten Betriebsstättenerlass wieder einzuführen.
Jedenfalls wäre es verfehlt anzunehmen, dass die deutschen Entstrickungsregelungen nun insgesamt europarechtswidrig und damit unanwendbar wären. Hinsichtlich der grundsätzlichen Anordnung der Entstrickungsbesteuerung und der Steuerfestsetzung sind sie europarechtskonform. Sollte man die Europarechtskonformität der Einziehungsregelung bezweifeln, so könnten entsprechende Zweifel durch eine Übergangsregelung der Finanzverwaltung ausgeräumt werden.