22 Jahre nach dem Erlass der Mutter-Tochter-Richtlinie (MTRL) und der Fusionsrichtlinie (FRL) dürfte klar sein, dass die Richtlinien zu den segensreicheren Einfällen der EU zählen. Fraglich ist in praxi, ob die Richtlinien auch auf gibraltarische Gesellschaften Anwendung finden. So lehnen insoweit etwa die Niederlande, Frankreich und Spanien eine Anwendung der FRL ab. Die Kommission hingegen hält die Anwendung der FRL – ohne größeren Begründungsaufwand zu treiben – für unproblematisch (vgl. Kommissar Monti stellvertretend für die Kommission, Antwort auf die schriftliche Anfrage E-0522/99, Abl. vom 3. 2. 1999, C 348 S. 93 f.).
Der persönliche Anwendungsbereich der genannten Richtlinien ist von drei Voraussetzungen abhängig und aufgrund des insoweit gleichen Wortlauts identisch: Die Gesellschaft muss gem. Art. 2 lit. a (i) MTRL bzw. Art. 3 lit. a FRL eine der im jeweiligen Anhang aufgeführten Formen aufweisen, gem. Art. 2 lit. a (ii) MTRL bzw. Art. 3 lit. b FRL nach dem Steuerrecht eines Mitgliedsstaats in diesem Staat ansässig sein und nach Art. 2 lit. a (iii) MTRL bzw. Art. 3 lit. c FRL ohne Wahlmöglichkeit einer im Anhang der jeweiligen Richtlinie aufgelisteten Steuer unterliegen. Die Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein.
Gibraltar ist ein britisches Überseegebiet. Es ist kein souveräner Staat und staatsrechtlich betrachtet auch nicht Teil des Vereinigten Königreichs. Es kann daher nicht aus eigenem Recht Teil der EU sein. Allerdings nimmt das Vereinigte Königreich die außenpolitische Vertretung Gibraltars wahr. Damit ist nach Art. 355 III AEUV Gibraltar Teil des räumlichen Geltungsbereichs der Verträge und mithin Teil des Hoheitsbereichs der EU. Der räumliche Anwendungsbereich von Verordnungen und Richtlinien (etwa MTRL und FRL) erstreckt sich also grds. auch auf Gibraltar. Hieraus ergibt sich, dass nach gibraltarischem Recht in Gibraltar ansässige Gesellschaften als gem. Art. 2 lit. a (ii) MTRL bzw. Art. 3 lit. b FRL in der EU ansässig gelten.
Gem. Art. 2 lit. a (i) MTRL bzw. Art. 3 lit. a FRL müssen die zu privilegierenden Gesellschaften darüber hinaus eine der im Anhang aufgeführten Rechtsformen aufweisen. Typisch für das gibraltarische Gesellschaftsrecht ist die Private Company Limited by Shares (Ltd.), die im gibraltarischen Companies Act geregelt ist. Weder diese Rechtsform noch eine andere im gibraltarischen Gesellschaftsrecht bekannte Rechtsform ist in den Anhängen zur MTRL und FRL explizit aufgeführt. Eine nach gibraltarischem Gesellschaftsrecht gegründete Gesellschaft ist damit jedenfalls prima facie nicht von den Richtlinien erfasst.
Bei richtiger, am Sinn und Zweck der Richtlinien orientierter Auslegung, sind jedoch auch Gibraltar-Gesellschaften von diesen umfasst. Wie sich den Präambeln der Richtlinien unschwer entnehmen lässt, war es die Absicht des Rates, zur Schaffung binnenmarktähnlicher Verhältnisse gem. Art. 26 AEUV (ex-Art. 14 EGV) beizutragen. Da die Richtlinien gerade dieser Verwirklichung dienen, kann der Rat einen Ausschluss der Gibraltar-Gesellschaften vom persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinien nicht gewollt haben. Mithin ist eine Auslegung angezeigt, die den Weg zur Anwendung der Richtlinien in einschlägigen Fällen eröffnet.
Ähnlich liegen die Dinge im Hinblick auf die geforderte Besteuerung gem. Art. 2 lit. a (iii) MTRL bzw. Art. 3 lit. c FRL. Hier ist in den Richtlinien-Anhängen für das Vereinigte Königreich mit der corporation tax explizit eine Steuer angegeben. Prima vista ist dieses Tatbestandsmerkmal ebenfalls zu verneinen, da Gibraltar-Gesellschaften – sofern von Fällen der doppelten Ansässigkeit abstrahiert wird – gerade nicht der corporation tax des Vereinigten Königreiches oder einer anderen im jeweiligen Anhang aufgelisteten Steuer unterworfen werden. Vielmehr unterliegen sie ausschließlich der gibraltarischen corporate tax. Eine Ausnahme muss aber für die gibraltarische corporate tax angesichts der oben angesprochenen ratio legis und nicht zuletzt aufgrund primärrechtlicher Erfordernisse gelten. Bei Vorgängen, die vom Anwendungsbereich der Richtlinien erfasst sind, ist nämlich regelmäßig der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) bzw. Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) eröffnet. Gibraltar ist vom geographischen Anwendungsbereich dieser Grundfreiheiten umfasst. Eine aus der Nichtanwendung der Richtlinien resultierende Besteuerung entsprechender Vorgänge könnte also regelmäßig mit Primärrecht konfligieren.
Conclusio: Die Anwendbarkeit der MTRL und FRL auf Gibraltar-Gesellschaften ist im Hinblick auf die Tatbestandsmerkmale Gesellschaftsform (Art. 2 lit. a (i) MTRL bzw. Art. 3 lit. a FRL) und Besteuerung (Art. 2 lit. a (iii) MTRL bzw. Art. 3 lit. c FRL) hoch problematisch. Letztlich verbleibt ein Spannungsfeld zwischen dem Wortlaut einerseits und der ratio legis sowie der Ansicht der Kommission andererseits. M. E. sollte dieses Spannungsfeld zugunsten der intendierten Verwirklichung eines gemeinsamen Binnenmarkts aufgelöst werden, wodurch Gibraltar-Gesellschaften von den Richtlinien umfasst würden.
(Zitiervorschlag, Kessler, Steuerboard DB0527002)