International existieren zwei grundlegend verschiedene Konzepte zur steuerlichen Behandlung der Verluste von ausländischen Betriebsstätten: Bis einschließlich 1998 konnten ausländische Betriebsstättenverluste beim deutschen Stammhaus temporär die inländische Bemessungsgrundlage mindern. Erzielte die ausländische Betriebsstätte später wieder Gewinne, erfolgte nach dem Gesetzeswortlaut eine Nachversteuerung durch Hinzurechnung der ausländischen Gewinne, was – nach Aussagen der Finanzverwaltung – in der Praxis allerdings nicht immer funktioniert haben soll. Ab 1999 wurde diese ökonomisch sinnvolle phasengleiche Verlustverrechnung abgeschafft und durch das von der Rechtsprechung des RFH und des BFH entwickelte Modell der absoluten Nichtberücksichtigung sowohl der Gewinne auch der Verluste einer ausländischen Betriebsstätte ersetzt. Diese auf den ersten Blick durchaus so folgerichtig erscheinende Symmetriethese verletzt bei näherer Betrachtung das Welteinkommensprinzip, verkennt die steuerökonomische Unterschiede zwischen Gewinn und Verlust und führt zu dem kuriosen Ergebnis, dass der Steuerpflichtige im DBA-Fall schlechter behandelt wird als ohne DBA.
Die Rechtsache Lidl Belgium
Die Rechtssache (Rs.) Lidl Belgium (Urteil vom 15. 5. 2008 – Rs. C-414/06, DB 2008 S. 1130) spielt in dem letztgenannten System der starren Nichtberücksichtigung von Gewinnen und Verlusten ausländischer Betriebsstätten. Der EuGH hat in seinem Urteil entschieden, dass das grundsätzliche Außerachtlassen laufender ausländischer Betriebsstättenverluste zwar die Niederlassungsfreiheit beschränkt, aber durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt erscheint. Als gewichtige Gründe betrachtet er im konkreten Fall die zwischenstaatliche Aufteilung der Steuerbefugnisse und der Gefahr einer Doppelberücksichtigung. Durch Rückgriff auf die in der Rs. Marks & Spencer (Urteil vom 13.12.2005 – Rs. C-446/03, DB 2005 S. 27) aufgestellten Prinzipien stellt der EuGH andererseits aber auch sicher, dass Verluste, immer dann, wenn im Quellenstaat keine Möglichkeit für eine Berücksichtigung besteht, ausnahmsweise im (Wohn-)Sitzstaat des Stammhauses die steuerliche Bemessungsgrundlage mindern. In diesem Fall droht keine doppelte Verlustverrechnung! Mit dieser salomonischen Lösung verpflichtet sich der EuGH dem Postulat der Einmalberücksichtigung. Grundsätzlich obliegt die Verrechnungspflicht daher dem Betriebsstättenstaat, erst als ultima ratio kann der Staat des Stammhauses in die Pflicht genommen werden, um eine Schlechterstellung des Steuerpflichtigen gegenüber dem reinen Inlandsfall zu vermeiden und eine einmalige Verrechnung der Verluste sicherzustellen. Hauptanwendungsfall hierfür ist die Schließung der Betriebsstätte wegen Erfolglosigkeit. In diesem Fall kann der Verlust nicht mehr im Ausland, sondern allein zu Lasten der inländischen Bemessungsgrundlage verrechnet werden.
Die Rechtssache Krankenheim Wannsee
Das steuerliche Umfeld der Rs. Wannsee (Urteil vom 23. 10. 2008 – Rs. 157/07, DB0345926) ist das einleitend vorgestellte und bis einschließlich 1998 in Deutschland praktizierte System des temporären Verlustabzugs verbunden mit einer späteren Nachversteuerung. Die Betriebsstätte lag im Streifall in Österreich, dessen nationales Recht Verluste ausländischer Stammhäuser nur dann zum Vortrag zuließ, wenn weltweit ein Verlust erwirtschaftet wurde. Im Kern stellte sich damit die Frage, ob die deutsche Nachversteuerung gerechtfertigt ist, auch wenn die unzweifelhaft europarechtswidrige Begrenzung des Verlustvortags in Österreich dazu führt, dass der Verlust in Österreich im Regelfall gar nicht vorgetragen werden kann. Zu beachten ist allerdings, dass der EuGH nur über das deutsche Recht und damit über die Frage zu entscheiden hatte, ob eine schematische Nachversteuerung – unabhängig von der tatsächlichen Vortragsfähigkeit – mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar ist. Auch hier hat der EuGH eine salomonische Lösung gefunden. Die damalige deutsche Regelung der temporären Verlustverrechnung ist europarechtskonform und berechtigt auch dann zur Nachversteuerung, wenn das ausländische Recht den Steuerpflichtigen benachteiligt. Die dortige Ungleichbehandlung hätte der Kläger mit einer Klage in Österreich anfechten müssen. Dass das österreichische Recht ausländische Investoren benachteiligt, ist jedenfalls kein Grund, dass Deutschland auf die ihm zustehende Nachversteuerung verzichten muss.
Verwirrung oder Entwirrung?
Auch wenn der EuGH zur Entwirrung beiträgt und klarstellt, dass grundsätzlich zunächst der Betriebsstättenstaat die Verantwortung für die Verlustberücksichtigung trägt, ist die Verwirrung keineswegs beseitigt. Führen die verschiedenen Systeme nun zu verschiedenen Ergebnissen? Müssen Verluste „immer-irgendwo“ berücksichtigt werden? Wann kann sich der Betriebsstättenstaat „aus der Verantwortung stehlen“, wann muss der Staat des Stammhauses Verluste doch importieren? Und wie steht die Finanzverwaltung all dem gegenüber?
Fragen über Fragen… bis nächste Woche!