In der Bilanz sind alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen (Imparitätsprinzip gemäß § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB), d.h. Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten sind zu bilden (§ 249 Abs. 1 Satz 1 HGB). Daraus könnte der Schluss gezogen werden, dass bei Bestehen einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung zum Bilanzstichtag stets eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilanzieren ist. Dem Urteil des IV. Senats des BFH vom 17.10.2013 (IV R 7/11; DB0644956) lag ein solcher Sachverhalt zu Grunde. Ein Luftfahrtunternehmen hatte im Hinblick auf Maßnahmen, die aufgrund behördlicher Anweisungen an den Luftfahrtgeräten vorzunehmen waren, Rückstellungen gebildet. Am Bilanzstichtag 31.12.2002 war für einen Teil der durchzuführenden Maßnahmen die Umsetzungsfrist abgelaufen und für einen Teil noch nicht.
Annährung der Rechtsprechung
Die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten setzt das Bestehen einer nur ihrer Höhe nach ungewissen Verbindlichkeit oder die hinreichende Wahrscheinlichkeit des künftigen Entstehens einer Verbindlichkeit dem Grunde nach – deren Höhe zudem ungewiss sein kann – voraus. Als weitere Voraussetzung muss der Schuldner ernsthaft mit seiner Inanspruchnahme rechnen. Sofern sich die Verpflichtung aus öffentlichem Recht ergibt, muss sie konkretisiert sein, d.h. inhaltlich hinreichend bestimmt, in zeitlicher Nähe zum Bilanzstichtag zu erfüllen sowie sanktionsbewehrt sein (ständige Rechtsprechung des BFH). Aufgrund der jüngeren Urteile des BFH war bislang nicht eindeutig geklärt, ob als weitere Voraussetzung eine wirtschaftliche Verursachung immer vorliegen muss oder ob in den Fällen, in denen zum Bilanzstichtag die rechtliche Verpflichtung feststeht, die Voraussetzung der wirtschaftlichen Verursachung entbehrlich ist. In seinem am 18.12.2013 veröffentlichten Urteil vom 17.10.2013 (IV R 7/11) hat sich der IV. Senat des BFH der Auffassung des I. Senats des BFH (Urteil vom 27.06.2001 – I R 45/97, BStBl. II 2003 S. 121 = DB0010324, unter II.3) im Ergebnis angeschlossen (vgl. Rz. 24 des Urteils vom 17.10.2013). Bei Bestehen einer rechtlichen Verpflichtung am Bilanzstichtag ist folglich keine wirtschaftliche Verursachung vor dem Bilanzstichtag erforderlich bzw. sie ist anzunehmen.
Bestehen einer rechtlichen Verpflichtung
Aufgrund der Rechtsprechung ist deshalb zu prüfen, wann von dem rechtlichen Bestehen einer Verpflichtung ausgehen ist. Eine Verpflichtung ist gegeben, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen. Rechtlich entstanden im bilanzsteuerlichen Sinn ist sie zu dem Zeitpunkt, zu dem die in der konkreten Regelung enthaltenen materiellen Rechtsfolgen ausgelöst werden. Nach dem Urteil des BFH vom 17.10.2013 ist dies bei Verwaltungsakten grundsätzlich der Zeitpunkt der Bekanntgabe; es kann aber auch ein späterer Zeitpunkt sein. Vom Bestehen einer rechtlichen Verpflichtung nach der Bekanntgabe ist regelmäßig auszugehen, wenn eine Umsetzungsfrist festgelegt ist; dann entsteht die Verpflichtung rechtlich erst im Zeitpunkt des Fristablaufs (BFH Urteile vom 13.12.2007 – IV R 85/05 = BStBl. II 2008 S. 516 = DB 2008 S. 1013; vom 06.02.2013 – I R 8/12, BStBl. II 2013 S. 686 = DB 2013 S. 1087). Sofern die Verpflichtung an eine Bedingung geknüpft ist (bspw. das Erreichen einer bestimmten Laufleistung eines Fahrzeugs), besteht die rechtliche Verpflichtung erst bei Eintritt der Bedingung.
Wirtschaftliche Verursachung
Eine Rückstellung kann für eine dem Grunde nach ungewisse Verpflichtung berücksichtigt werden, wenn zum Bilanzstichtag eine wirtschaftliche Verursachung gegeben ist. Dies setzt voraus, dass die Verbindlichkeit nicht nur an Vergangenes anknüpft, sondern auch Vergangenes abgilt (BFH-Urteil vom 08.09.2011 – IV R 5/09, BStBl. II 2012 S. 122 = DB0462136, Rz 30, m.w.N.). Grundlegend hat der BFH nun entschieden, dass keine wirtschaftliche Verursachung anzunehmen ist, wenn eine Anpassungsverpflichtung vorliegt, die darauf gerichtet ist, die objektive Nutzbarkeit eines Wirtschaftsguts in Zeiträumen nach Ablauf des Bilanzstichtags zu ermöglichen (BFH vom 17.10.2013, Rz. 23 m.w.N.). Daher hat der BFH die Anerkennung der Rückstellung des Luftfahrtunternehmens hinsichtlich der Maßnahmen, für die die Frist am Bilanzstichtag noch nicht abgelaufen war, versagt. Da die Rechtsprechung darüber hinaus für die wirtschaftliche Verursachung bzw. deren Voraussetzungen jedenfalls keine stets messbaren Kriterien nennt, ist das Vorliegen letztlich von der wirtschaftlichen Wertung des Einzelfalls abhängig (so BFH Urteil vom 17.10.2013, Rz. 23 m.w.N.), so dass sich in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung hinsichtlich des Merkmals der wirtschaftlichen Verursachung eine umfangreiche Kasuistik herausgebildet hat.
Die Versagung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten wegen des Fehlens einer wirtschaftlichen Verursachung ist vor dem Hintergrund des Imparitätsprinzips kritisch zu sehen. Plastisch wird die Thematik anhand folgender Frage: Welcher Betrieb ist wertvoller: Der Betrieb, dem bereits bekannt ist, dass Maßnahmen an seinen Anlagen vorzunehmen sind oder der, der diese Maßnahmen (noch) nicht vornehmen muss, weil der Anpassungsbedarf mangels Vorliegen von gesetzlichen Verpflichtungen (ggf. in Gestalt von Verwaltungsakten) nicht besteht.
Künftige Vorteile
Im Übrigen lässt sich dem Urteil des BFH vom 17.10.2013 entnehmen, welche weiteren Voraussetzungen (eigenbetriebliches Interesse; Rz. 27) und steuergesetzlichen Regelungen (keine nachträglichen Anschaffungskosten (Rz. 28) und keine künftigen Vorteile (Rz. 29-33) beim Ansatz und der Bewertung von Rückstellungen zu berücksichtigen sind. Hervorzuheben sind hier insbesondere die Ausführungen zu der Auslegung des § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG (künftige Vorteile), da diesbezüglich bisher keine BFH-Entscheidung vorlag, in der diese Frage in dem nun vorliegenden Umfang betrachtet wurde.
Fazit
Für die Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten gilt hinsichtlich der Voraussetzung der wirtschaftlichen Verursachung, dass diese nicht erforderlich bzw. anzunehmen ist, wenn am Bilanzstichtag eine rechtliche Verpflichtung besteht. Vom Bestehen einer rechtlichen Verpflichtung kann ausgegangen werden, wenn für die Maßnahme eine Frist zu beachten ist und diese am Bilanzstichtag abgelaufen ist.
Besteht am Bilanzstichtag keine rechtliche Verpflichtung – was vielfach der Fall sein dürfte – ist für die Anerkennung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten am Bilanzstichtag das Vorliegen einer wirtschaftlichen Verursachung erforderlich. An diesem Kriterium wird der Ansatz einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten in vielen Fällen scheitern; das Ergebnis wird dann möglicherweise eine Handelsbilanz sein, die dem Imparitätsprinzip des HGB nicht entsprechen wird.