Brexit und Zinsschranke haben auf den ersten Blick nichts gemein. Bei näherem Hinsehen lassen sich jedoch Zusammenhänge erkennen. Der Brexit wird vielfach als Folge eines politischen Verhaltens gewertet, bei dem die große Idee der EU von britischen Politikern solange missbraucht wurde, bis sie in der Bevölkerung ihre Anziehungskraft verloren hat. Ein kontinentales Beispiel für einen solchen Umgang mit der EU bietet die jüngste Entwicklung zum Thema Zinsschranke.
Zinsschranke, BEPS und GG
Die Zinsschranke wurde von ihren Verfechtern lange Jahre als deutscher Exportartikel gefeiert. Tatsächlich erlangte sie im Rahmen des BEPS-Projekts weltweite Beachtung. Eine der BEPS-Maßnahmen richtet sich gegen die künstliche Verlagerung von Steuersubstrat durch Zinszahlungen. Hier wurde die Zinsschranke als „common approach“ vereinbart. Das deutsche Interesse im Rahmen des BEPS-Projekts ging dahin, dass es nicht zu Empfehlungen kommt, die hinter der deutschen Rechtslage zurückbleiben. Die deutsche Seite wollte erreichen, dass andere Länder ähnlich effektive Instrumente einführen, um Gewinnverlagerungen mithilfe von Zinszahlungen zu bekämpfen (Staats, IStR 2016 S. 135).
Zeitgleich hat der BFH auf nationaler Ebene die in Deutschland bereits etablierte Zinsschranke (§§ 4h EStG, 8a KStG) wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz und das Leistungsprinzip für verfassungswidrig erachtet und sie deshalb dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt (BFH vom 14.10.2015 – I R 20/15, RS1191858; vgl. dazu Märtens, DB 2016 S. 382). Eine solche Vorlage ist nur zulässig, wenn das vorlegende Gericht von der Verfassungswidrigkeit überzeugt ist. Die Entscheidung des BFH kam nicht überraschend, denn bereits knapp zwei Jahre zuvor hat er in einem AdV-Verfahren deutliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Zinsschranke geäußert (BFH vom 18.12.2013 – I B 85/13, DB 2014 S. 927; vgl. dazu Pupeter, Steuerboard vom 22.04.2014).
Zinsschranke und EU
Von der EU-Kommission wurde der Bedarf gesehen, dass die EU den einzelnen Mitgliedsländern präzise vorgibt, wie einige der BEPS-Maßnahmen umzusetzen sind. Das mag sich auch daraus erklären, dass viele Mitgliedsländer der EU mangels Zugehörigkeit zur OECD oder den G20 (z.B. Malta) nicht unmittelbar am BEPS-Projekt beteiligt waren und deshalb im Rahmen der EU „mitverhaftet“ werden sollten.
Zwar besitzt die EU keine Zuständigkeit für die direkte Besteuerung. Allerdings ist sie nach Art. 115 AEUV ermächtigt, Richtlinien für die Angleichung derjenigen Vorschriften zu erlassen, die sich „unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes“ auswirken. Gestützt hierauf hat die EU-Kommission zu Beginn des Jahres einen Richtlinienvorschlag mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken (Anti Tax Avoidance Directive, ATAD) vorgelegt. Sie verpflichtet sämtliche Mitgliedsländer, ihr nationales Recht bis Ende des Jahres 2018 anzupassen und neben Anderem eine Zinsschranke einzuführen. Am 12.07.2016 wurde die Richtlinie formell vom EU-Ministerrat (ECOFIN, Economic and Financial Affairs Council) der EU angenommen. Die Zustimmung des EU-Parlaments war nicht notwendig.
Und hier kommt der bemerkenswerte Punkt: Die Entscheidung im ECOFIN musste einstimmig erfolgen. Hätte auch nur ein Land gegen die Richtlinie gestimmt, wäre sie nicht in Kraft getreten. Deutschland wurde dabei durch Bundesfinanzminister Schäuble vertreten.
EU-Recht und Verfassungsrecht
Wenn die deutsche Zinsschranke spätestens ab dem Jahr 2019, gegebenenfalls mit kleineren Anpassungen, als Umsetzung einer EU-Richtlinie zu sehen ist, ist sie grundsätzlich nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen. Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht gilt mit gewissen Einschränkungen auch gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht (BVerfG in ständiger Rechtsprechung, z.B. Urteil vom 31.05.2016 – 1 BvR 1585/13, RS1207048 m.w.N.).
Es lässt sich also Folgendes festhalten: Ein oberstes deutsches Bundesgericht hält eine die Bürger belastende Norm für verfassungswidrig. Die Bundesregierung setzt die EU dafür ein, diese zumindest ins Wanken geratene Norm zu stabilisieren. Die EU würde bildlich gesprochen einen möglichen Verfassungsverstoß des deutschen Gesetzgebers heilen.
Das BVerfG steht also vor der Möglichkeit, ein deutsches Rechtsinstitut als verfassungswidrig zu qualifizieren, welches kurz darauf aufgrund vorrangigen EU-Rechts dennoch weitergilt. Es kann auch diesen eher unpolitisch-trockenen Fall zum Anlass nehmen, seine Rechtsprechung zum Verhältnis von deutschem Verfassungsrecht und EU-Recht weiter zu entwickeln. Jedoch kann es den Problemen auch aus dem Weg gehen, indem es zu der Erkenntnis gelangt, die Zinsschranke sei bereits nach deutschem Verfassungsrecht nicht zu beanstanden.
Auch zum Verhalten des Ministers stellen sich einige spannende verfassungsrechtliche Fragen: Durfte sich ein deutscher Finanzminister, der an das Grundgesetz gebunden ist, auf EU-Ebene so verhalten? Immerhin war ihm die Möglichkeit, dass die Zinsschranke gegen das Grundgesetz verstößt, aufgrund der Richtervorlage des BFH präsent. Kann ein solches, der Verwirklichung des Grundrechtschutzes entgegengesetztes Verhalten tatsächlich Grundrechte aushebeln?
Instrumentalisierung der EU
An dieser Stelle geht es jedoch vor allem um die Instrumentalisierung der EU. Wer als Politiker die EU bewusst einsetzt, um den heimischen Grundrechtsschutz zu unterlaufen, darf sich nicht wundern, dass die als Instrument benutzte EU in den Augen der Bürger an Anziehungskraft verliert. Glücklicherweise ist dieser Vorgang von eher technischer Natur und dürfte auf das politische Bewusstsein in der Bundesrepublik Deutschland nur geringen Einfluss haben. Aber er ist ein signifikantes Beispiel dafür, dass auch als „Europäer“ bekannte Politiker aufgrund kurzsichtiger Überlegungen die europäische Idee beschädigen. Wenn Politiker im Alltagsgeschäft mit den Möglichkeiten der EU nicht sorgsamer umgehen, wird die große Idee nicht nur auf der Insel, sondern auch auf dem Kontinent dauerhaft Schaden nehmen.