Bundesverfassungsgericht erklärt rückwirkende Besteuerung von bestimmten Anteilsveräußerungen für verfassungswidrig

WP StB Dr. Lutz Schmidt, Partner bei Noerr LLP in Düsseldorf

Das BVerfG hat in der vergangenen Woche eine Entscheidung veröffentlicht, mit der es die rückwirkende Besteuerung von bestimmten Veräußerungen von Anteilen an Kapitalgesellschaften für verfassungswidrig erklärt hat (Beschluss vom 7. 7. 2010 – 2 BvR 748/05, u. a., DB0363406). Aus der Entscheidung ergeben sich ggf. massive Auswirkungen bezüglich des Umfangs der Steuerpflicht von Gewinnen aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften.

Das Urteil des BVerfG hat folgenden steuerlichen Hintergrund: Gewinne aus der Veräußerung von im Privatvermögen gehaltenen Anteilen an einer Kapitalgesellschaft unterlagen nach der bis zum 31. 12. 1998 geltenden Rechtslage der Einkommensteuer, wenn der Steuerpflichtige innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Veräußerung – das heißt zu irgendeinem Zeitpunkt innerhalb dieses Zeitraums – zu mehr als 25% beteiligt war. Diese Beteiligungsgrenze wurde durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 vom 31. 3. 1999 auf 10% gesenkt. Durch die Gesetzesänderung sollten auch die Wertsteigerungen der Besteuerung unterworfen werden, die bereits vor der Gesetzesänderung eingetreten waren, die der Steuerpflichtige aber erst nach dem 31. 12. 1998 durch eine Veräußerung realisiert bzw. realisiert hatte.

Das BVerfG hat jedoch nunmehr entschieden, dass die Absenkung der Beteiligungsgrenze gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes verstößt und daher nichtig ist, soweit hierdurch Wertsteigerungen besteuert werden, die bereits vor dem 31. 3. 1999 eingetreten waren. Denn diese hätten nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei realisiert werden können.

Die Entscheidung des BVerfG betrifft zunächst natürliche Personen, bei denen eine Steuerpflicht des Veräußerungsgewinnes auf der Absenkung der Beteiligungsgrenze von 25 auf 10% beruht, d. h. konkret jene Personen, die eine Beteiligung von 25% oder weniger an einer Kapitalgesellschaft in ihrem Privatvermögen gehalten haben oder ggf. noch halten, ihre Beteiligung vor dem 31. 3. 1999 erworben haben und die Beteiligung nach dem 31. 12. 1998 – ganz oder teilweise – veräußert haben oder sie noch veräußern werden. Bei diesen Steuerpflichtigen dürfen nach der Entscheidung des BVerfG die Wertsteigerungen der Beteiligung, die bis zum 31. 3. 1999 eingetreten sind, nicht besteuert werden.

Das Finanzamt muss daher den Wert der Beteiligung zum 31. 3. 1999 ermitteln, weil es nur die nach diesem Stichtag eingetretenen Wertsteigerungen besteuern darf. Um ggf. unzutreffende Schätzungen des Finanzamts widerlegen zu können, sollten Steuerpflichtige Unterlagen aufbewahren, die für eine Wertermittlung herangezogen werden können. Dies ist insbesondere für Steuerpflichtige wichtig, die ihre Beteiligung noch nicht veräußert haben. Denn bei einer zukünftigen Veräußerung dürfen auch bei ihnen nur die Wertsteigerungen besteuert werden, die nach dem 31. 3. 1999 eingetreten sind.

Die Argumentation des BVerfG ist u. E. unmittelbar auf die weitere Absenkung der Beteiligungsgrenze von 10 auf 1% durch das StSenkG vom 23. 10. 2000 übertragbar. Demnach dürfen bei Steuerpflichtigen, die eine Beteiligung von weniger als 10% an einer Kapitalgesellschaft in ihrem Privatvermögen gehalten haben, ihre Beteiligung vor dem 1. 1. 2002 erworben haben und die Beteiligung nach dem 31. 12. 2001 veräußert haben, die Wertsteigerungen der Beteiligung, die bis zum 31. 12. 2001 eingetreten sind, ebenfalls nicht besteuert werden. Bei Beteiligungen an ausländischen Kapitalgesellschaften gilt hier der Stichtag 31. 12. 2000. Denn die abgesenkte Beteiligungsgrenze galt dann bereits ab dem Veranlagungszeitraum 2001.

Meines Erachtens hat die Entscheidung darüber hinaus auch Bedeutung für Steuerpflichtige, die eine Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft unter Geltung des Teil- statt des Halbeinkünfteverfahrens veräußert haben oder noch veräußern werden, d. h. jene Steuerpflichtigen, die eine Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft gleich welcher Höhe im Privat- oder Betriebsvermögen gehalten haben oder noch halten, die Beteiligung vor dem 1. 1. 2009 erworben haben und die Beteiligung nach dem 31. 12. 2008 veräußert haben oder sie noch veräußern werden. Seit dem Wechsel zum Teileinkünfteverfahren am 1. 1. 2009 werden nur noch 40% eines derartigen Gewinns freigestellt. Der Gesetzgeber ordnete damit an, dass 10% der bis zum 31. 12. 2008 eingetretenen Wertsteigerungen ab dem 1. 1. 2009 (nachträglich) steuerpflichtig wurden. Die Entscheidung hat ganz erhebliche Reichweite.

Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich Handlungsbedarf für Steuerpflichtige, die bereits eine Beteiligung veräußert haben. Sie sollten prüfen lassen, ob bereits ergangene Steuerbescheide noch geändert werden können, um eine Steuererstattung zu erhalten. Eine Änderung ist insbesondere noch möglich, wenn ein Einspruchs- oder Klageverfahren anhängig ist oder der Steuerbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist. Ein im Steuerbescheid aufgenommener Vorbehalt der Nachprüfung entfällt automatisch, wenn die Festsetzungsfrist für die Steuer abgelaufen ist. Die Festsetzungsfrist läuft im Regelfall spätestens sieben Jahre nach dem Ende des Jahres ab, für das die Steuer festgesetzt wurde. Daher müssen betroffene Steuerpflichtige unter Umständen bereits bis zum Ende dieses Jahres einen Antrag auf Änderung des Steuerbescheids beim Finanzamt stellen, wenn sie ihren Erstattungsanspruch nicht verlieren wollen.

Alle betroffenen Steuerpflichtigen – also insbesondere auch jene, die noch nicht veräußert haben – sollten Unterlagen aufbewahren, die für eine Wertermittlung der Beteiligung zu den Stichtagen 31. 3. 1999, 31. 12. 2001 und 31. 12. 2008 herangezogen werden können.

2 BvR 748/05

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