Der BFH hat in seinem Beschluss vom 25.04.2018 (IX B 21/18, DB 2018 S. 1190) erstmals erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der steuerlichen Nachzahlungszinsen nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO erhoben. Der gesetzlich geregelte Zinssatz von 0,5% pro Monat, d.h. 6% p.a., begegne ab dem Veranlagungszeitraum 2015 schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln. Damit positioniert sich der BFH im Sinne vieler kritischer Stimmen in der Literatur. Ein Zinssatz von 6% p.a. wird in einer über Jahre andauernden Niedrigzinsphase nicht den wirtschaftlichen Realitäten gerecht und verschafft dem Staat eine nicht zu rechtfertigende Einnahmequelle.
Sachverhalt
Der IX. Senat des BFH hatte über einen Antrag im einstweiligen Rechtsschutz auf Aussetzung der Vollziehung gem. § 69 Abs. 3 FGO zu beschließen: Im Anschluss an eine Außenprüfung änderte das Finanzamt im Jahr 2017 gegenüber den im vorliegenden Verfahren als Antragsteller auftretenden Eheleuten den Einkommensteuerbescheid für 2009 und berücksichtigte einen Veräußerungsgewinn von mehr als 4,4 Mio. €. Korrespondierend kam es zugunsten der Antragsteller in den Veranlagungszeiträumen 2013 bis 2015 zu geringeren Festsetzungen bei den Einnahmen aus Kapitalvermögen.
Aufgrund dieses Vorganges setzte das Finanzamt Zinsen in Höhe von 240.831 € fest. Die Einsprüche gegen diese Zinsen sind bei dem zuständigen Finanzamt anhängig und ruhen wegen einer noch ausstehenden Entscheidung des BVerfG (Az.: 1 BvR 2237/14).
Das zuständige FG lehnte einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab, worauf die hiesigen Antragsteller Beschwerde beim BFH einlegten. Sie berufen sich auf die Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes nach § 238 AO.
Beschluss des BFH
Der BFH setzte die Vollziehung des Zinsbescheides aus und begründete seine Entscheidung mit schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln hinsichtlich des angegriffenen Zinssatzes. „Die angegriffene Zinshöhe in § 233a AO i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO begegnet durch ihre realitätsferne Bemessung mit Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG […] und das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ergebende Übermaßverbot […] für den hier in Rede stehenden Zeitraum vom 1. April 2015 bis 16. November 2017 schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln.“
Damit sieht der BFH zwei Anknüpfungspunkte für eine mögliche Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes. In Bezug auf den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG führt der BFH aus, dass der Zinssatz von 6% p.a. aufgrund des verfestigten Niedrigzinsniveaus „den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität in erheblichem Maße“ überschreitet. Entgegen der Argumentation des III. Senats des BFH (vgl. BFH vom 09.11.2017 – III R 10/16, DB 2018 S. 489; vgl. hierzu Werth, DB 2018 S. 674) zu einem vergleichbaren Fall, kann nach Ansicht des hier entscheidenden IX. Senates nicht als Rechtfertigung gelten, dass bei Kreditkartenunternehmen Zinssätze von ca. 14% und bei Kontoüberziehungen Zinssätze von ca. 9% verlangt werden. Die Regelung sei im Jahr 1961 aus Praktikabilitäts- und Vereinfachungsgründen eingeführt worden. Diese Gründe griffen aber in heutigen Zeiten nicht mehr zur Rechtfertigung, weil durch moderne Datenverarbeitungsmöglichkeiten eine Anpassung an den Marktzinssatz oder den Basiszinssatz des § 247 BGB einfacher möglich sei. Beispielhaft verweist der BFH auf Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b Doppelbuchst. dd Kommunalabgabengesetz Bayern (KAG BY), der dahingehend abgeändert wurde, dass für den Anwendungsbereich des KAG BY nicht mehr § 238 Abs. 1 Satz 1 AO heranzuziehen ist, sondern der Zinssatz 2 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB jährlich beträgt.
Der BFH stellt zudem klar, dass Zinsen von 6% p.a. auch nicht dem Sinn und Zweck der Norm entsprechen, den Nutzungsvorteil des Steuerpflichtigen wenigstens zum Teil abzuschöpfen, den er durch die Verfügungsmöglichkeit hat.
Daneben zieht der BFH das Übermaßverbot zur Begründung heran: Gerade vor dem Hintergrund der fehlenden zeitlichen Begrenzung des Zinslaufes wirke die Regelung in Zeiten des Niedrigzinsniveaus „wie ein sanktionierender, rechtsgrundloser Zuschlag auf die Steuerfestsetzung“. Der BFH verweist auf andere Verzinsungsregelungen, wie die Regelung zum Verspätungszuschlag (§ 152 Abs. 5 AO) oder für die Berechnung des Durchschnittszinses nach § 253 Abs. 2 HGB, die zeitgemäß angepasst wurden.
Ausblick und Auswirkungen für die Praxis
Im einstweiligen Rechtsschutz hat der BFH nur eine summarische Prüfung vorzunehmen, so dass der Argumentationsaufwand deutlich geringer ist als in einem Hauptsacheverfahren. Im Hauptsacheverfahren muss abgewartet werden, ob das zuständige FG das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dem BVerfG vorlegt.
Für die Praxis empfiehlt es sich für alle Steuerpflichtigen, die noch Nachzahlungen ab dem Veranlagungszeitraum 2015 zu leisten haben, gegen die Zinshöhe nach § 238 AO Rechtsmittel einzulegen und argumentativ auf den hier behandelten Beschluss des BFH zu verweisen.
Hinweis: Auch auf politischer Ebene wurde der Beschluss des BFH bereits aufgegriffen. So hat die FDP-Fraktion im Bundestag am 06.06.2018 einen Antrag gestellt (vgl. BT-Drucks. 19/2579), in dem sie einen Gesetzesentwurf fordert, demgemäß der Zinssatz für die Nachzahlungszinsen „zeitnah und realitätsgerecht“ nach unten korrigiert und eine Koppelung an einen Referenzzinssatz geprüft werden solle.