Steuernachzahlungen unterliegen seit mehr als fünf Jahrzehnten einer gesetzlichen Verzinsung von 0,5% pro Monat (§ 233a i.V.m. § 238 AO). Sinn und Zweck der Verzinsung ist es, den Liquiditätsvorteil abzuschöpfen, der einem Steuerpflichtigen dadurch entsteht, dass eine Steuerfestsetzung erst mehr als 15 Monate nach der Steuerentstehung erfolgt oder geändert wird. Während des Zeitraums der Nichterhebung kann der Steuerpflichtige diesen Steuerbetrag nutzen, der an sich bereits dem Fiskus zusteht. Gleichermaßen soll der Liquiditätsnachteil der Finanzverwaltung durch die Verzinsung ausgeglichen werden. In Anbetracht des aktuell niedrigen Zinsniveaus stellt sich jedoch die Frage, ob ein Zinssatz in Höhe von 6% pro Jahr noch verhältnismäßig ist.
Verfassungsmäßigkeit des Nachzahlungszinssatzes auf dem Prüfstand
Beim BVerfG sind zur Verfassungsmäßigkeit des Nachzahlungszinssatzes bereits zwei Verfahren anhängig, die Zinszeiträume nach dem 31.12.2009 und nach dem 31.12.2011 betreffen (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 21422/17). In den letzten Monaten beschäftigten sich zudem zwei verschiedene Senate des BFH mit der Frage, ob der Zinssatz mit dem Grundgesetz vereinbar sei – mit unterschiedlichen Ergebnissen.
Gegensätzliche BFH-Entscheidungen und Einlenken des BMF
Der III. Senat des BFH befand die Verzinsung für das Jahr 2013 für verfassungsgemäß (BFH vom 09.11.2017 – III R 10/16, DB 2018 S. 489; vgl. dazu Werth, DB 2018 S. 674). Ohne Typisierungen sei die Regelung nicht umsetzbar. Die Anwendung des fixen Zinssatzes erfolge zur Verwaltungsvereinfachung und aus Praktikabilitätsgründen. Der BFH stützte seine Argumentation auch auf eine Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2009, in der eine Verfassungswidrigkeit der Verzinsung für frühere Zinszeiträume abgelehnt worden war. Zur Illustration der Bandbreite möglicher Zinssätze zog der III. Senat den Monatsbericht der Deutschen Bundesbank heran. Dieser zeigte Zinssätze zwischen 0,15% und 14,7%. Ein Zinssatz von 6% sei daher für Verzinsungszeiträume, die in das Jahr 2013 fallen, nicht unverhältnismäßig.
Zur Höhe des Nachzahlungszinssatzes für Verzinsungszeiträume ab April 2015 hatte ein halbes Jahr später der IX. Senat des BFH zu entscheiden (BFH vom 25.04.2018 – IX B 21/18, RS1277767; vgl. dazu Brandt, StR kompakt, DB1284044). Streitig war, ob die Vollziehung eines Zinsbescheides auszusetzen sei. Der IX. Senat des BFH äußerte im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes schwerwiegende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit und sah damit Gründe für eine Aussetzung der Vollziehung gegeben. „Angesichts der zu dieser Zeit bereits eingetretenen strukturellen und nachhaltigen Verfestigung des niedrigen Marktzinsniveaus“ überschreite der Zinssatz den Rahmen der wirtschaftlichen Realität, was potenziell gleichheitswidrig wäre. Es sei nahezu ausgeschlossen, dass ein Steuerpflichtiger die zu zahlenden Zinsen durch Anlage hätte erzielen können. Die Zinshöhe wirke „wie ein sanktionierender, rechtsgrundloser Zuschlag auf die Steuerfestsetzung“, so dass zweifelhaft sei, ob diese noch dem Übermaßverbot entspreche. Kein Rechtfertigungsgrund für das Festhalten am fixen Zinssatz sei zudem das Ziel der Verwaltungsvereinfachung. Auch die Finanzverwaltung verfüge über moderne Datenverarbeitungstechnik, die es ermögliche, Anpassungen des Zinssatzes, z.B. an den jeweiligen Markt- oder Basiszinssatz, technisch umzusetzen.
Zur Anwendung dieses Beschlusses über den entschiedenen Einzelfall hinaus ist am 24.06.2018 ein BMF-Schreiben ergangen. In allen Einspruchsverfahren gegen vollziehbare Zinsfestsetzungen, die Verzinsungszeiträume ab dem 01.04.2015 betreffen, ist auf Antrag des Steuerpflichtigen Aussetzung der Vollziehung zu gewähren. Dies sei nicht als Zweifel der obersten Finanzbehörden an der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes zu verstehen – so der ausdrückliche Hinweis im BMF-Schreiben. Schließlich habe das BVerfG in der Vergangenheit bereits mehrere Nichtannahmebeschlüsse in ähnlich gelagerten Fällen getroffen, so dass weiterhin ungewiss sei, ob das BVerfG den Zinssatz in den anhängigen Verfahren als verfassungswidrig einstufen werde.
Einordnung und Empfehlung
Die jüngste Entscheidung des BFH ist zu begrüßen. Auch wenn der IX. Senat im Aussetzungsverfahren nicht die Möglichkeit hatte, das BVerfG hinzuzuziehen, äußerte er doch erstmals schwere Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit und bestätigte die Realitätsferne des aktuellen Zinssatzes. Der BFH schloss sich damit der herrschenden Literaturmeinung und der öffentlichen Wahrnehmung an. Da es sich bei dem Beschluss des IX. Senates nur um eine summarische Prüfung handelte, bleibt die zukünftige Auffassung des BFH allerdings weiter spannend. Abzuwarten bleibt auch, ob der Gesetzgeber nun selbst aktiv wird oder das BVerfG hierfür die Rahmenbedingungen diktieren wird. Auf Länderebene sind erste Initiativen erkennbar. So haben der Freistaat Bayern und das Land Hessen den Bundesrat zur Einforderung bzw. Einbringung eines Gesetzesentwurfs aufgefordert, der eine Absenkung des Zinssatzes auf 0,25% pro Monat vorsehen soll. Über diese Anträge wird derzeit in den Fachausschüssen beraten.
Es ist ratsam, in sämtlichen Fällen von Zinsbescheiden für Verzinsungszeiträume nach dem 31.12.2009 unter Bezug auf die anhängigen Verfahren beim BVerfG Einspruch einzulegen. Dies gilt unabhängig vom Veranlagungszeitraum und der Steuerart. Die im BMF-Schreiben angeordnete Aussetzung der Vollziehung der Zinsbescheide ist nur auf Antrag zu gewähren. Daher ist für Verzinsungszeiträume ab dem 01.04.2015 ausdrücklich auch die Aussetzung der Vollziehung zu beantragen.
Das Einlegen von Rechtsmitteln sollte nicht nur im Falle von Nachzahlungszinsen, sondern für alle Zinsbescheide erfolgen – also ebenso für Hinterziehungszinsen, Stundungszinsen und AdV-Zinsen. Der Bezug auf den Zinssatz von 0,5% pro Monat (§ 238 AO) ist diesen Verzinsungsarten gemeinsam. Eine abweichende Auffassung in Bezug auf die Verfassungskonformität der Höhe des Zinssatzes erscheint daher zunächst unwahrscheinlich.
Die Verzinsung betrifft neben Steuernachzahlungen auch Steuererstattungen. Der hohe Zinssatz wirkt sich dann zugunsten der Steuerpflichtigen aus. Trotzdem verbleibt bei der Finanzverwaltung ein positiver Zinssaldo. Allein durch Betriebsprüfungen wurden in den letzten Jahren jeweils Mehrergebnisse aus Zinsen in Milliardenhöhe erzielt.