Größte Mehrwertsteuerreform seit 1993: Mit sog. Quick Fixes zu einem „endgültigen Umsatzsteuersystem”

StB Dipl.-Kfr. Dr. Heidi Friedrich-Vache, Leiterin des Geschäfts-bereichs Umsatzsteuer-beratung, Rödl & Partner, München

Die Europäische Kommission hat weitreichende Reformen zur Umsatzsteuer angestoßen, um Steuerausfälle und -betrug, administrativen Aufwand sowie Komplexität in der Besteuerung zu verringern. Diese großen Ziele sollen erreicht werden, indem auch für den EU-grenzüberschreitenden Handel auf die Besteuerung nach dem sog. Bestimmungslandprinzip umgestellt wird. Endgültig soll es bis 2022 beim B2B-Handel keine innergemeinschaftliche Lieferung im Abgangsland der Ware und keine korrespondierende Besteuerung des Erwerbs im Bestimmungsland mehr geben. Lokale Umsatzsteuer ist so grundsätzlich vom Leistenden zu fakturieren, an den Fiskus zu erklären und abzuführen, ggf. via One-Stop-Shop in nur einer Umsatzsteuererklärung im Ansässigkeitsstaat. Dadurch werden Registrierungs- und Erklärungspflichten im EU-Ausland und damit einhergehend immense Kosten für Unternehmer vermieden. Bis dahin ist der Weg aber noch weit. Dies betrifft vor allem auch den IT-technischen und verfahrensrechtlichen Austausch zwischen den EU-Finanzbehörden.

Quick Fixes im Überblick

Bis zum vorgesehenen „endgültigen System“ werden vorbereitend bereits zahlreiche Änderungen angestoßen. Am 04.12.2018 wurden die sog. Quick Fixes als erste Stufe der Reform mit Umsetzungsverpflichtung in den Mitgliedstaaten beschlossen (Ratsdok. 12882/17 nach Vorschlag COM(2017) 569). Mit Wirkung ab 01.01.2020 sollen diese als schnelle Lösungen in Kraft treten; ein diesbezüglicher Referentenentwurf für die Umsetzung in deutsches Recht wird noch im April 2019 erwartet. Von den Quick Fixes ist der innergemeinschaftliche EU-Warenverkehr zwischen Unternehmern betroffen.

Reihengeschäfte und was in der Praxis zu tun ist

Die Kriterien für die Bestimmung des Besteuerungsortes von Lieferungen im sog. Reihengeschäft sollen endlich EU-weit vereinheitlicht werden. Bei Reihengeschäften werden in einer Reihe nacheinander über drei oder mehr Beteiligte mehrere Lieferungen abgeschlossen, wobei die Ware vom ersten Unternehmer in der Reihe (z.B. Produzent, Händler) physisch unmittelbar an den letzten Abnehmer gelangt. So soll im derzeit kritischsten Fall der Transportbeauftragung die Lieferung des mittleren Unternehmers die ggf. steuerfreie grenzüberschreitende Lieferung sein, wenn der Unternehmer mit seiner Umsatzsteuer-Identifikationsnummer auftritt, die ihm vom Warenabgangsland erteilt wurde. Es ist zu befürchten, dass es in der Praxis weitere Abgrenzungsfragen geben wird.

Unternehmer sollten vorbereitend bis zum 31.12.2019 ihre grenzüberschreitend bezogenen und ausgeführten Lieferungen durchgehen und prüfen, ob Reihengeschäfte vorliegen. Für derartige Geschäftsvorfälle sollten möglichst einheitliche Prozesse, Vereinbarungen mit Lieferanten / Kunden, Systemeinstellungen und Rechnungsstellungen gestaltet werden.

Vereinfachungsregelung für Konsignationslager (Call-off Stocks)

Die bereits in einigen EU-Ländern vorgesehene Vereinfachungsregelung, wonach das grenzüberschreitende innergemeinschaftliche Verbringen von eigener Ware durch einen Unternehmer in ein (in einem anderen EU-Mitgliedstaat belegenes) Konsignationslager mit einem anschließenden lokalen (umsatzsteuerpflichtigen) Verkauf vermieden wird und stattdessen vereinfacht direkt eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung an den Kunden erklärt und fakturiert werden kann, wird nun einheitlich für die EU vorgesehen. Dadurch werden teils bisher noch notwendige Registrierungen im Bestimmungsland der Ware für EU-ausländische Unternehmer wegfallen.

Auch hier sollten Unternehmer Systemeinstellungen und ggf. Änderungen der Rechnungsstellungen vornehmen, da bei Vereinfachung nicht mehr mit Umsatzsteuer, sondern ohne Umsatzsteuer abzurechnen ist. Zudem sind die Umsatzsteuer-Identifikationsnummern der Kunden anzufordern, zu prüfen und im Rahmen von Zusammenfassenden Meldungen auch die Umsätze zu erfassen. In diesem Zusammenhang sind die Folgen eines Brexit zu bedenken. Für Unternehmer mit bestimmten Konsignationslagern in UK ergäbe sich im Fall eines Brexit eine Registrierungspflicht für umsatzsteuerliche Zwecke. Die Erteilung einer lokalen Steuernummer nach entsprechendem Antrag könnte sich seitens der UK-Finanzbehörde bei einem Brexit durch eine erhöhte Anzahl an Registrierungsanträgen zeitlich stark verzögern.

Nachweis einer innergemeinschaftlichen Lieferung

Die EU-Kommission will die Kriterien für formelle Belege, die für die Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen nötig sind, weiter festlegen. So soll z.B. der Erwerber von Waren eine schriftliche Erklärung  unter Angabe des Bestimmungsmitgliedstaats abgeben, dass die Gegenstände von ihm oder für seine Rechnung von einem Dritten befördert oder versandt wurden. Somit sind zwei einander nicht widersprechende Nachweise (z.B. auch der unterzeichnete CMR-Frachtbrief), die die Beförderung oder den Versand bestätigen, beizubringen. Nach ersten Aussagen der Bundesfinanzverwaltung sollen diese EU-Vorschriften als Maximalanforderung angesehen werden und in Deutschland wohl die bisherigen Belege (z.B. Gelangensbestätigung) in § 17a ff. UStDV als ausreichend gelten.

Umsatzsteuer-Identifikationsnummer als Voraussetzung

Ein Schwerpunkt ist, dass künftig die im Mehrwertsteuer-Informationsaustauschsystem (MIAS) eingetragene Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Leistungsempfängers für die Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung materiell-rechtlich (zusätzlich) vorausgesetzt wird. Damit wird die  Bedeutung der Identifikationsnummer enorm erhöht. Klar ist, dass bei Lieferungen ins EU-Ausland ohne Mitteilung („aktive Verwendung“) einer gültigen Identifikationsnummer durch den Kunden im Zeitpunkt der Lieferung an ihn nicht steuerfrei fakturiert werden kann. Der Lieferant muss die Identifikationsnummern qualifiziert abfragen und das Ergebnis aus Nachweiszwecken archivieren.

Hinweise zum sog. „zertifizierten Steuerpflichtigen”

Die Umsetzung der Quick Fixes ist nicht mehr mit der Einführung eines zertifizierten Steuerpflichtigen (certified taxable person) verknüpft. Mit diesem Status sollten Unternehmer diverse Vereinfachungen bei der Abwicklung umsatzsteuerlicher Sachverhalte in Anspruch nehmen können. Als Voraussetzung für die Zertifizierung werden Unternehmen neben der Zahlungsfähigkeit vor allem ein zuverlässiges und funktionierendes – bisher nicht weiter beschriebenes – internes Kontrollsystem nachweisen müssen. Der zertifizierte Steuerpflichtige wird nach dem Bericht des Europäischen Parlaments vom 25.01.2019 (Plenarsitzungsdokument A8-0028/2019) aber wohl weiterverfolgt. Daher bleibt das Thema Tax bzw. Umsatzsteuer Compliance Management System auch von europäischer Seite auf der Agenda.

Hinweise für die Praxis

Alle aufgeführten Aspekte haben hohe Praxisrelevanz, da nahezu alle EU-weit liefernden Unternehmen von den Umsatzsteueränderungen betroffen sind. Die Änderungen bedeuten Umstellungsbedarf mit notwendigem zeitlichen Vorlauf im Erklärungs- und Rechnungsstellungsprozess sowie bei den systemseitigen Hinterlegungen zu Lieferanten, Kunden und Geschäftsvorfällen – insbesondere zur Erfassung von Umsatzsteuer-Identifikationsnummern. Auch wenn die Umstellung in den nächsten Jahren zunächst mit einem erheblichen Aufwand verbunden sein wird, besteht die Hoffnung, dass es nach der Reform einfachere und stärker harmonisierte Verfahren geben wird und sich so die Rechnungsstellung sowie die Einhaltung umsatzsteuerlicher Vorschriften für Unternehmer vereinfachen.

Kommentare sind geschlossen.