Nehmen wir an, der Gesetzgeber beschließt zum 1. 11. 2010, den Abgeltungssteuersatz rückwirkend ab 1. 1. 2010 auf 30% zu erhöhen und damit auch die Kapitalerträge zu erfassen, die vor Inkrafttreten des Änderungsgesetzes zugeflossen sind. Wäre dies aus verfassungsrechtlicher Sicht hinzunehmen? Oder genießt der Steuerpflichtige Schutz vor Eingriffen in bereits verwirklichte, d. h. erwirtschaftete vermögenswerte Positionen, sprich: Schutz vor einer Höherbelastung bereits zugeflossener Erträge?
Das BVerfG unterscheidet in ständiger Rechtsprechung zwischen der echten und unechten Rückwirkung und nimmt bei Veranlagungssteuern eine (grundsätzlich unzulässige) echte Rückwirkung nur an, wenn die Norm nach Ablauf des Veranlagungszeitraums verkündet wird und für den bereits abgeschlossenen Veranlagungszeitraum die Rechtsfolgen nachträglich ändert. Wird dagegen eine Regelung während des Laufs eines Veranlagungszeitraums verkündet, liegt nach Auffassung des BVerfG lediglich eine Neubestimmung einer bisher noch nicht eingetretenen Rechtsfolge und damit eine sog. unechte Rückwirkung vor. Denn die Steuer entsteht regelmäßig erst mit Ablauf des Kalenderjahres, die Rechtsfolge tritt also erst zu diesem Zeitpunkt ein (siehe etwa § 36 Abs. 1 i.V. mit § 25 Abs. 1 EStG). Diese Rechtsprechung hat das BVerfG jüngst in drei Beschlüssen bestätigt und damit die Lehre vom sog. veranlagungsbezogenen Rückwirkungsbegriff gegen heftige Kritik im Schrifttum und auch aus dem BFH verteidigt. Allerdings – und das ist neu – hat das BVerfG die unechte Rückwirkung nicht mehr als grundsätzlich zulässig bezeichnet, sondern nur insoweit, als nicht vertrauensrechtlich „besonders geschützte Erwartungen in Gestalt eines konkret vorhandenen Vermögensbestands im grundrechtlich geschützten Verfügungsbereich“ betroffen sind.
In den drei Beschlüssen, die schon vielfach kommentiert wurden (s.a. Lutz, Handelsblatt online vom 27. 8. 2010), ging es um die rückwirkende Verlängerung der Spekulationsfrist für Grundstücke (§ 23 Abs. 1Satz 1 Nr. 1 EStG) von zwei auf zehn Jahre, um die rückwirkende Absenkung der relevanten Beteiligung für die Besteuerung von Gewinnen aus der Veräußerung von Kapitalgesellschaften (§ 17 EStG) von 25% auf 10% und um die rückwirkende Einführung der sog. Fünftel-Regelung für Entschädigungszahlungen (§ 32 Abs. 1 EStG). In allen drei Fällen hat das BVerfG die rückwirkende Änderung von Steuergesetzen während des Veranlagungszeitraums zu Lasten des Bürgers aus Vertrauensschutzgründen verworfen, da der Gesetzgeber dafür eine „hinreichende Begründung nach den Maßstäben der Verhältnismäßigkeit“ nicht liefern konnte. Der bloße Finanzbedarf erfülle diese Voraussetzungen nicht. Noch interessanter als diese Wendung ist aber die Aussage, dass das vor der Gesetzesverkündung bereits betätigte Vertrauen grundsätzlich verfassungsrechtlichen Schutz genießt, wenn daraus eine „konkret verfestige Vermögensposition“ resultiert.
Was heißt das? Wann liegt eine Vermögensposition vor, die dem „grundrechtlich geschützten Vermögensbereich“ zuzuordnen ist? Ist das bereits in dem eingangs genannten Tarifbeispiel der Fall? Immerhin hat der Steuerpflichtige bereits Zuflüsse von Kapitalerträgen realisiert. Und es gibt gewisse Ähnlichkeiten zur Entscheidung über die sog. Fünftel-Regelung. Dort sah das Gericht die Nichtanwendung des (früher geltenden) halben Steuersatzes dann als verfassungswidrig an, wenn die Entschädigungen noch vor der Verkündung des Gesetzes am 31. 3. 1999 zugeflossen waren. Allerdings lagen dem Zufluss Abfindungsvereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zugrunde, die noch im vorangegangen Veranlagungszeitraum abgeschlossen wurden. Aber kann es darauf ankommen? Ich meine nein, da erst die Realisierung, also der Zufluss den verfassungsrechtlichen Schutz auslösen kann und zudem alle Vermögenszuflüsse regelmäßig auf vertraglichen Vereinbarungen beruhen.
Noch wichtiger erscheint mir aber eine weitere Frage, die gar nichts mit der Rückwirkung zu tun hat. In den Entscheidungen zur Verlängerung der Spekulationsfrist für Grundstücke und zur Absenkung der relevanten Beteiligungsgrenze argumentiert das Gericht mit dem „Entstrickungsgedanken“: Mit dem Ablauf der früher geltenden Zweijahresfrist sei das Grundstück in den nicht steuerbaren Bereich gelangt, diese Vermögensposition sei verfassungsrechtlich geschützt. Das gleiche gelte für Anteile an Kapitalgesellschaften, die nicht steuerverhaftet gewesen seien. Die bis zur Gesetzesänderung nicht realisierten Wertzuwächse dürfen nicht erfasst werden, da „die rückwirkende Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze die Entwertung konkret vorhandener Vermögensbestände zur Folge hat.“
Der Gesetzgeber hatte im entschiedenen Fall das Gesetz am 31. 3. 1999 verkündet und rückwirkend zum 1. 1. 1999 in Kraft gesetzt. Gilt diese Aussage auch für Gesetzesänderungen, die erst den künftigen Veranlagungszeitraum erfassen? Wenn der Gesetzgeber das Gesetz am 30. 12. 1998 verkündet und zum 1. 1. 1999 in Kraft setzt, greift er ebenfalls in „konkret vorhandene Vermögensbestände“ ein. Auch in diesem Fall sind Wertzuwächse im nicht steuerbaren Bereich eingetreten, die durch die künftige Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze entwertet werden. Ob Vermögenspositionen verfassungsrechtlich schützenswert sind, kann nicht davon abhängen, welchen Zeitpunkt der Gesetzgeber für das Inkrafttreten des Änderungsgesetzes wählt. Sind sie schützenswert, so bleiben sie dies bis zum Inkrafttreten Gesetzes, gleichgültig, ob dies rückwirkend erfolgt oder nicht. Die gebildeten steuerfreien Wertzuwächse („stillen Reserven“) müssen nach dem die Beschlüsse beherrschenden Grundgedanken weiterhin steuerfrei bleiben, dürfen also bei späterer Veräußerung nicht in die Bemessungsgrundlage eingehen.