Am 03.12.2011 ist das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren in Kraft getreten – kurz: das „ÜVerfdG“. Das Gesetz betrifft alle Gerichte und somit – das aber erst nach langer, kontroverser Diskussion im Gesetzgebungsverfahren – auch das BVerfG. Der Gesetzgeber hat für diese Einbeziehung eine von anderen Gerichten abweichende Sonderbehandlung in § 97a bis § 97e BVerfGG geschaffen: § 97a Abs. 1 Satz 1 BVerfGG gebietet beim Bundesverfassungsgericht die „Ahndung“ durch Entschädigung „infolge unangemessener Dauer eines Verfahrens“. Konkrete Folgen ergeben sich aus der Einbeziehung des BVerfG in den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren allerdings praktisch nicht. Die Einbeziehung des BVerfG ist eher Kosmetik denn Inhalt, mehr Schein als Sein. Die mit etlichen Verfahrenshindernissen ausgelobte Entschädigung von 1.200 Euro pro Jahr der Verzögerung ist maximal ein Tropfen auf dem heißen Stein, und die ansonsten grundsätzlich noch mögliche Anrufung des EGMR ein stumpfes Schwert. Doch immerhin: Dass man beim BVerfG anhängige Verfahren überhaupt einbezogen hat, bezeugt im Ergebnis eine gute Absicht, ein Bekenntnis zur Gleichbehandlung vor dem Gesetz, das eben auch vor dem höchsten Gericht nicht haltmacht.
Was ist bei „Verfahrensüberlängen“ zu tun?
Und so gesehen kann man es nicht bei reiner Symbolik belassen und sollte es denn auch dem BVerfG wie jedem anderen Gericht nicht „egal“ sein, mit welchen guten oder schlechten Gründen man „Überlängen“ in Kauf nimmt. Solche Überlängen mögen im Einzelfall sachliche Gründe haben, die auch in der besonderen Stellung des Gerichts liegen, so z.B. tagesaktuelle Überflutungen mit Verfassungsbeschwerden (wie jetzt wohl wegen der oft nur exekutiven Freiheitsbedrängungen infolge der Corona-Regularien) oder auch individuell-menschelnde Gründe bei dem einen oder dem anderen (berichterstattenden) Richter (gendergerecht: Person). Verlangt man indessen zwischenzeitlich bei nahezu jedem Unternehmen die Installation eines tragfähigen Compliance Management, dann ist solches angesichts von Ziel und Zweck des „ÜVerfdG“ auch bei den Gerichten einzufordern, richterliche Unabhängigkeit hin, richterliche Unabhängigkeit her. Der Präsident, der Direktor des Gerichts, der Vorsitzende des Spruchkörpers, sie alle haben auf eine ordnungsmäßige Erledigung, ein Abarbeiten der „alten“ anhängigen Fälle hinzuwirken, und sie werden dem regelmäßig auch gerecht. Aber wie sieht es damit beim BVerfG aus? Wie stellt man sich dort „Verfahrensüberlängen“ entgegen? Wie hält man den betreffenden Berichterstatter zur Arbeit an, ohne dessen richterliche Unabhängigkeit zu beschädigen? Gibt es präsidiale „Ansprachen“, Kontrollen, „Mahnungen“? Denkt man an ein Umsortieren der Geschäftsverteilung, um das „zeitkritisch“ volllaufende Dezernat zu entlasten?
Gibt es beim BVerfG im Steuerrecht überhaupt „Verfahrensüberlängen“?
Antworten darauf sind nicht überliefert. Aber schon die Fragen als solche geben Grund genug, dem einmal etwas näher nachzugehen. Die juristischen, digital verfügbaren Dokumentationen sind mittlerweile untrüglich und geben auf Knopfdruck beredt Auskunft:
Beim BVerfG sind danach derzeit insgesamt 77 anhängige Verfahren zum Steuerrecht ausgewiesen. 42 hiervon tragen ein (Eingangs-)Aktenzeichen des Jahres 2016 und älter. Bei den Normenkontrollverfahren verteilen sich diese wie folgt: Zwei aus dem Jahr 2011, drei aus dem Jahr 2013, zwölf aus dem Jahr 2014, zwei aus dem Jahr 2016. Bei den Verfassungsbeschwerden stößt man auf ein 2012’er Aktenzeichen, zwei tragen ein solches aus 2013, fünf aus 2014, acht aus 2015 sowie sechs aus 2016. Bis auf eine Verfassungsbeschwerde aus 2014 werden sämtliche dieser Verfahren im Zweiten Senat des Gerichts geführt. Manche von ihnen werden Jahr für Jahr im Katalog der Jahresvorausschau angekündigt, der „Übersicht wichtiger Verfahren“, in denen das Gericht „während des laufenden Jahres eine Entscheidung anstrebt“. Das beeindruckt. In seinem vielbeachteten Aufsatz in NVwZ 2012 S. 265 zum „Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren vor dem BVerfG“ berichtete Rüdiger Zuck von einem seinerzeit gehaltenen „Rekord“ von neun Jahren, der eine Verfassungsbeschwerde betraf. Die neuerliche Übersicht verklart: Dieser Rekord wird in wenigstens zwei Normenkontrollfällen getoppt, den Verfahren 2 BvL 1/11 und 2 BvL 12/11.
Die Nöte des Steuerunterworfenen
Das alles klingt vielleicht anprangernd. Doch ist ein hohes Amt nun mal mit einer Verantwortung verbunden, die auch Verantwortlichkeit nach sich zieht. Nur ein zeitgerechter Rechtsschutz ist ein rechtsstaatsgerechter Rechtsschutz. Im Steuerrecht mögen damit „nur“ wirtschaftliche Aspekte verbunden sein. Doch ändert das nichts. Für eine Geringschätzung solcher Belange besteht kein Anlass. Rechtsschutz darf nicht durch Zeitablauf zur Rechtsverweigerung werden. Die betroffenen „Parteien“, der Fiskus, vor allem die vielen, vielen Steuerpflichtigen, die in den Folgejahren nicht planen und gestalten können, weil die Dinge ungeklärt sind (und deswegen von Seiten der Finanzbehörden auch keine verbindlichen Auskünfte erlangen), denen – dem Vorsichtsprinzip geschuldet – womöglich unnötige Rückstellungen für Bilanzrisiken aufgenötigt werden, auch die nachgeordneten Gerichte, bei denen sich die zum Ruhen gebrachten oder ausgesetzten Verfahren stapeln, mit häufig noch ausstehenden Aufklärungsarbeiten, welche sich nach Jahren und Jahrzehnten kaum werden leisten lassen, die gesamte Fachwelt – sie alle warten in der Regel geduldig, aber auch mit wachsendem Unverständnis auf eine Antwort des Verfassungsgerichts.
Um welche Verfahren geht es in der Sache?
Unter den besagten Fällen finden sich höchst grundlegende Fragen ebenso wie solche, die beträchtliche Breitenwirkung haben: So etwa die Frage nach der Höhe der gesetzlichen „Steuerzinsen“, Fragen des sog. Treaty Override, die vom BVerfG längst (und leider negativ) beantwortet worden sind (BVerfG vom 15.12.2015 – 2 BvL 1/12) und an die sich lediglich noch Fragen der Regelungsrückwirkung anschließen. Darunter findet sich seit nunmehr rund acht Jahren der oft zitierte „Zoff im BFH“, nämlich die bekannte Streitfrage nach der Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen Schwestergesellschaften zu den Buchwerten nach § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG, und weiterhin die Fragen, ob die sog. Zinsschranke nach § 4h EStG ebenso wie die sog. Mindestbesteuerung nach § 10d Abs. 2 EStG verfassungsrechtlichen Anforderungen standhalten. Auch die Frage der Verfassungsfestigkeit der Verlustabzugsschranken nach § 8c KStG in seiner zweiten Anwendungsalternative des Verlustabzugsausschlusses harrt bereits im achten Jahr einer Antwort, obschon ein erstes Grundsatzurteil zu der ersten Alternative der Verlustabzugsbeschränkung bereits seit geraumer Zeit vorliegt (BVerfG vom 29.03.2017 – 2 BvL 6/11).
All das sind wichtige Fragen, die Rechtsanwender und Rechtsunterworfene im Ungewissen lassen. Fragen, die teilweise auch politisch „überholt“ wurden, wie das z.B. beim Solidaritätszuschlag – mit dessen zwischenzeitlichen, wohl ihrerseits verfassungs-, weil gleichheitsrelevanten Teilaufhebung zu Lasten von „nur“ 10 Prozent der Zahlenden, aber der Hälfte der Einnahmen – der Fall ist. Die Normenkontrollvorlage zur Verfassungsgemäßheit des Zuschlags 2 BvL 6/14 harrt immer noch einer Erkenntnis. Ob es Sinn macht, auf sie zu warten, bleibt offen. Denn „für nicht mehr geltendes Recht besteht in der Regel kein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse, seine Verfassungsmäßigkeit auch noch nach seinem Außer-Kraft-Treten zu klären (vgl. BVerfG, 11.10.1994, 2 BvR 633/86, BVerfGE 91, 186 <200>)“.
Es bedarf des Diskurses über Lösungsansätze
Es ist ein Diskurs darüber anzustoßen, wie das abgearbeitet, zeitnäher bewältigt werden kann. Bloßes Wegschweigen oder Zuwarten taugen zur Lösung sicher nicht. Ein transparenter Umgang mit den Gründen für das Liegenlassen der Fälle täte not, auch und gerade für das BVerfG. Es befriedigt wenig, wenn auf Nachfragen von dort stets nur zu hören ist: „Darüber können wir keine Auskunft geben, die Sache liegt beim Berichterstatter“. Zumindest wüsste man eben gerne, welche Regularien im Gericht bestehen, um „Liegezeiten“ von bis zu einem Jahrzehnt zu begegnen.
Das vom BFH genommene Längenmaß
Der BFH ist da schon weiter. Er hat „zum Zwecke der Typisierung und Rechtsvereinfachung (…) die Vermutung aufgestellt, dass die Dauer eines finanzgerichtlichen Klageverfahrens i.S. von § 198 Abs. 1 GVG noch angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene dritte Phase des Verfahrensablaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt“, so die ständige Spruchpraxis seit dem Urteil vom 07.11.2013 – X K 13/12. Möge dieses „Längenmaß“ doch der Maßstab auch für das Verfassungsgericht sein!