Was ist Gleichzeitigkeit? – Anmerkungen zum Buchwertprivileg des § 6 Abs. 3 EStG

RA Dr. Michael Tischendorf, Maître en droit, Associate bei POELLATH, München

Über die Voraussetzungen der unentgeltlichen Übertragung von Mitunternehmeranteilen zum Buchwert ist in den letzten Jahren ausgiebig gestritten worden. Insbesondere war bis zuletzt offen, ob das Buchwertprivileg nach § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG auch dann noch zu gewähren ist, wenn gleichzeitig mit der unentgeltlichen Übertragung des Mitunternehmeranteils funktional wesentliches Sonderbetriebsvermögen entnommen oder veräußert wird. Mit seinem Urteil vom 10.09.2020 (IV R 14/18, DB 2021 S. 317) hat der BFH einen vorläufigen Schlussstrich unter die Debatte gezogen und dabei auch interessante Bemerkungen zum Begriff der Gleichzeitigkeit gemacht.

 

Gesamtplanbetrachtung

Wird der Anteil eines Mitunternehmers an einem Betrieb unentgeltlich übertragen, so sind gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG bei der Ermittlung des Gewinns des bisherigen Mitunternehmers die Wirtschaftsgüter mit den Buchwerten anzusetzen, sofern die Besteuerung der stillen Reserven sichergestellt ist. Der Rechtsnachfolger ist gemäß § 6 Abs. 3 Satz 3 EStG an diese Werte gebunden. Im Anwendungsbereich der Vorschrift unterbleibt somit die Aufdeckung stiller Reserven. Vorausgesetzt ist insofern allerdings, dass tatsächlich der gesamte (Teil-)Mitunternehmeranteil übertragen wird, bestehend aus dem Anteil am Gesamthandsvermögen einerseits sowie dem funktional wesentlichen Sonderbetriebsvermögen andererseits. Zum Buchwert findet eine Anteilsübertragung demnach nur dann statt, wenn neben dem Gesellschaftsanteil auch das funktional wesentliche Sonderbetriebsvermögen des Übertragenden bei der Gesellschaft auf den Rechtsnachfolger übertragen wird.

Die Finanzverwaltung hatte hierzu in der Vergangenheit eine „Gesamtplanbetrachtung“ vertreten. Für die Anwendung des § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG war es demnach bereits schädlich, wenn im zeitlichen oder sachlichen Zusammenhang mit der Übertragung eines Mitunternehmeranteils funktional wesentliches Sonderbetriebsvermögen entnommen oder veräußert oder in ein anderes Betriebsvermögen überführt oder übertragen wurde (BMF vom 03.03.2005 – IV R 2 – S 2241 – 14/05, Rz. 7). Dieser Auffassung der Finanzverwaltung ist der BFH indes in mehreren Entscheidungen entgegengetreten.

Intervention des BFH

Mit Urteil vom 02.08.2012 – IV R 41/11 (BStBl. II 2019 S. 715) entschied der BFH, dass es für die Anwendung des § 6 Abs. 3 EStG unschädlich sei, wenn vor der Übertragung des Mitunternehmeranteils funktional wesentliches Betriebsvermögen nach § 6 Abs. 5 EStG überführt oder übertragen werde. Es reiche aus, wenn das auf den Rechtsnachfolger übergehende Betriebsvermögen für sich genommen sinnvoll wirtschaften könne. Dabei ging der BFH sogar so weit, dass § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG auch dann anzuwenden sei, wenn die Überführung oder Übertragung gemäß § 6 Abs. 5 EStG gleichzeitig mit der Übertragung des Mitunternehmeranteils erfolge. Dahinter steht letztendlich ein normsystematisches Argument: So stünden die Vorschriften des § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG einerseits und die des § 6 Abs. 5 EStG andererseits gleichberechtigt nebeneinander. Beide Normen widersprächen sich auch im Hinblick auf ihre Rechtsfolgen nicht: So sei in beiden Fällen anstelle einer Realisierung der stillen Reserven die Buchwertfortführung angeordnet. Dies rechtfertige die synchrone Anwendung der Vorschriften.

In einer weiteren Entscheidung vom 09.12.2014 – IV R 29/14 (BStBl. II 2019 S. 723 = DB 2015 S. 222) befand der BFH über den Fall eines Steuerpflichtigen, der vor der unentgeltlichen Übertragung seines Kommanditanteils funktional wesentliches Sonderbetriebsvermögen entgeltlich an einen Dritten veräußert hatte. Der BFH schlug sich auch hier auf die Seite des Steuerpflichtigen: § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG setze lediglich die Übertragung desjenigen Betriebsvermögens voraus, das im Zeitpunkt der Übertragung noch vorhanden sei. Zuvor (voll steuerpflichtig) entnommene oder veräußerte Wirtschaftsgüter des Sonderbetriebsvermögens seien aber gerade nicht mehr Bestandteil des Mitunternehmeranteils. Ihre vorherige Entnahme oder Veräußerung stünden der Anwendung des § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG daher grundsätzlich nicht im Wege. An die Stelle der zeitraumbezogenen Gesamtplanbetrachtung setzte der BFH damit eine zeitpunktbezogene Betrachtung. Offen blieb jedoch zunächst, ob und unter welchen Voraussetzungen § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG auch bei einer gleichzeitigen Veräußerung oder Entnahme von Wirtschaftsgütern des Sonderbetriebsvermögens anwendbar ist.

Reaktion der Finanzverwaltung

Die Finanzverwaltung hatte sich zunächst lange gegen eine Umsetzung der vorgenannten Rechtsprechung des BFH gesperrt. Erst mit Schreiben vom 20.11.2019 zog sie die Konsequenzen und gab die Gesamtplanbetrachtung im Kontext des § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG auf (vgl. dazu bereits Wegener, HB-Steuerboard vom 05.02.2020).

Soweit jedoch im Zuge der unentgeltlichen Übertragung des Mitunternehmeranteils funktional wesentliches Sonderbetriebsvermögen „zeitgleich oder taggleich“ entnommen oder veräußert wird, will die Finanzverwaltung § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG ausweislich des Schreibens auch weiterhin nicht anwenden. Insbesondere dieser letzte Punkt steht freilich im Widerspruch zu einigen Stimmen in der Literatur, die sich insofern auf den gegenteiligen Standpunkt gestellt haben. So sei eine Differenzierung zwischen unschädlicher Überführung oder Übertragung gemäß § 6 Abs. 5 EStG einerseits und schädlicher Entnahme oder Veräußerung andererseits schlicht nicht einleuchtend.

Gleichzeitigkeit oder Vorzeitigkeit?

Auch die Finanzgerichte hielten § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG in Fällen „taggleicher“ Entnahme bzw. Veräußerung für anwendbar. So entschied etwa das Niedersächsische FG bereits am 16.08.2013 (2 K 172/12), dass eine taggleiche Entnahme der Anwendbarkeit des § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG keinen Abbruch tue. Im gleichen Sinne urteilte später am 19.04.2018 das FG Düsseldorf (15 K 1187/17 F), demzufolge die Veräußerung von funktional wesentlichem Sonderbetriebsvermögen taggleich mit der Übertragung des Mitunternehmeranteils unschädlich sei. Im Zentrum der Begründung stand dabei das argumentum a fortiori, dass derjenige, der die im Sonderbetriebsvermögen gebildeten stillen Reserven ganz oder zum Teil ohne Inanspruchnahme der Tarifbegünstigung (§ 34 EStG) aufdecke, erst recht in den Genuss des Buchwertprivilegs kommen müsse, wenn selbiges auch bei gleichzeitiger Überführung oder Übertragung von Wirtschaftsgütern des Sonderbetriebsvermögens zum Buchwert gewährt werde.

Schlussstrichentscheidung des BFH

Dieser Argumentation vermochte der BFH indes nicht zu folgen. Mit Entscheidung vom 10.09.2020 (IV R 14/18) hob er das Urteil des FG Düsseldorf (a.a.O.) auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück.

Zwar bestätigt der BFH in seiner Entscheidung zunächst seine stichpunktbezogene Betrachtung. So stehe es der Anwendung des § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG nicht entgegen, wenn noch vor der Übertragung des Mitunternehmeranteils funktional wesentliches Sonderbetriebsvermögen entnommen oder veräußert werde. Maßgebend für die Anwendbarkeit des § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG sei allein, dass das im Zeitpunkt der unentgeltlichen Übertragung noch vorhandene Betriebsvermögen vollständig auf den Rechtsnachfolger übergehe.

Im Gegensatz zur bislang herrschenden Meinung will der BFH die Vorschrift des § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG jedoch dann nicht angewandt wissen, wenn die Veräußerung bzw. Entnahme exakt gleichzeitig mit der unentgeltlichen Übertragung des restlichen Betriebsvermögens erfolge. So habe der BFH die Rechtfertigung für die parallele Anwendung von § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG einerseits und § 6 Abs. 5 EStG andererseits darin gesehen, dass diese beiden Normen systematisch gleichberechtigt nebeneinander stünden. Dies mache es erforderlich, die Vorschriften gegebenenfalls auch synchron zur Anwendung gelangen zu lassen. Dagegen fehle es im Verhältnis von § 16 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG einerseits und § 6 Abs. 3 Satz 1 Hs. 1 EStG andererseits an einer solchen normsystematischen Gleichrangigkeit. Wenn gleichzeitig mit der Übertragung des Gesellschaftsanteils Teile des funktional wesentlichen Sonderbetriebsvermögens entnommen oder veräußert würden, werde der Mitunternehmeranteil insgesamt (tarifbegünstigt) aufgegeben mit der Folge, dass auch hinsichtlich des unentgeltlich übertragenen Teils die stillen Reserven aufzudecken seien.

Strenge zeitpunktbezogene Betrachtung

Jedoch nimmt der BFH an dieser Stelle eine wichtige Präzisierung vor: Von einer „gleichzeitigen“ Veräußerung sei nämlich nicht schon dann auszugehen, wenn diese bloß am selben Tag wie die unentgeltliche Übertragung des Restbetriebsvermögens erfolge. Maßgeblich sei eine zeitpunkt-, keine zeitraumbezogene und folglich auch keine tageweise Prüfung. An die Stelle des Intervalls eines Tages setzt der BFH damit letztendlich einen exakt definierten Punkt, der keine Ausdehnung in der Zeit hat. Insofern stellt sich der BFH ausdrücklich gegen das BMF-Schreiben vom 20.11.2019, wo die Finanzverwaltung Taggleichheit und Gleichzeitigkeit noch gleichgesetzt hatte.

Interessant ist jedoch vor allem, dass der BFH ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Betriebsvermögen selbst dann noch bejahen will, wenn die Veräußerung oder Entnahme des betreffenden Wirtschaftsguts nur eine „juristische Sekunde“ vor der unentgeltlichen Übertragung des Restbetriebsvermögens erfolgt. Das lässt aufhorchen. Die Bedeutung des Konzepts der juristischen Sekunde besteht ja gerade darin, dass sie Ereignisse, die tatsächlich gleichzeitig eintreten, hinsichtlich ihrer Rechtsfolgen in eine – fiktive – chronologische Reihenfolge bringt. Mit anderen Worten wird die Gleichzeitigkeit für Zwecke der Rechtsanwendung gedanklich durchbrochen. Als Beispiel hierfür lässt sich die Zession einer künftigen Forderung nennen: Erwirbt der Zedent nach erfolgter Abtretung die Forderung, so geht diese – nach verbreiteter Auffassung – erst auf den Zessionar über, nachdem sie für eine „juristische Sekunde“ Teil des Vermögens des Zedenten war. Dieser „Effekt“ kann einen wesentlichen Unterschied machen, etwa wenn der Steuerpflichtige – und sei es auch nur für die Dauer einer juristischen Sekunde – eine Beteiligung im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG erlangt (BFH vom 26.01.2011 – IX R 7/09, m.w.N.). Inwiefern sich dies auf die Situation des § 6 Abs. 3 Satz 1 EStG übertragen lässt, lässt der BFH offen.

Fazit

Der Einstein’schen speziellen Relativitätstheorie verdanken wir die Erkenntnis, dass die Frage, ob zwei Ereignisse gleichzeitig eintreten, nur relativ, also in Abhängigkeit vom jeweiligen Betrachter, beantwortet werden kann. Doch das gilt nur für die Physik. Für den BFH dagegen ist Gleichzeitigkeit eine objektive, vom Tatrichter festzustellende Tatsache. Nur wenn die Entnahme oder Veräußerung von funktional wesentlichem Sonderbetriebsvermögen in ihrem exakten Zeitpunkt mit der Übertragung des restlichen Betriebsvermögens zusammenfällt, ist das Kriterium der Gleichzeitigkeit erfüllt mit der Folge, dass die Buchwertfortführung insgesamt ausscheidet und der gesamte Vorgang als tarifbegünstigte Betriebsaufgabe zu besteuern ist. Dabei darf sich das Gericht nicht auf die Feststellung beschränken, dass sowohl die Entnahme bzw. Veräußerung einerseits als auch die Übertragung des restlichen Betriebsvermögens andererseits innerhalb desselben Zeitintervalls, z.B. am selben Tag, erfolgt seien. Herauszuarbeiten sind keine Zeiträume, sondern Zeitpunkte. Geht die Entnahme oder Veräußerung von Wirtschaftsgütern des Sonderbetriebsvermögens der Übertragung des „Rests“ zeitlich voraus – und sei es auch nur für den Bruchteil einer Sekunde –, so ist das Buchwertprivileg im Hinblick auf das unentgeltlich übertragene „Restbetriebsvermögen“ zu gewähren.

Kommentare sind geschlossen.