Bindungswirkung von Konsultationsvereinbarungen – Fortentwicklung des Rechts durch BFH

StB/FBIStR Dipl.-Bw. (FH) Andreas Fertig ist Gründungspartner bei Hofmann & Fertig Partnerschaft aus Steuerberatern mbB, Frankfurt/M.

Mit Urteil vom 30.09.2020 – I R 37/17 (DB 2021 S. 827) hat der BFH seine Rechtsprechung zur Bindungswirkung von sogenannten Konsultationsvereinbarungen fortentwickelt. Der BFH stellt klar, dass eine Konsultationsvereinbarung auch nach Einführung des § 2 Abs. 2 Satz 1 AO keine Bindungswirkung für die Gerichte entfalten kann, wenn diese gegen den Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes verstößt. In diesem Fall ist diese als unwirksam zu verwerfen. Durch Konsultationsvereinbarungen können insbesondere keine Regelungen getroffen werden, die über den Wortlaut des Gesetzes hinausgehen oder sogar im Widerspruch dazu stehen.

 

Ausgangslage

Vor Inkrafttreten des § 2 Abs. 2 Satz 1 AO durch das JStG 2010 war bereits in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass Verständigungsvereinbarungen zwischen den Steuerbehörden zweier Staaten Bindungswirkung allenfalls für die betroffenen Verwaltungen entfalten, nicht jedoch für Steuerpflichtige oder Gerichte, insbesondere dann nicht, wenn diese im Widerspruch zu einer Regelung des anwendbaren Doppelbesteuerungsabkommens (DBA) stehen (vgl. hierzu z.B. BFH vom 11.11.2009 – I R 84/08, BStBl. II 2010 S. 390; vom 02.09.2009 – I R 111/08, BStBl. II 2010 S. 387).

Die Finanzverwaltung hat mit Einführung des § 2 Abs. 2 AO neuen Mut geschöpft und ging davon aus, Konsultationsvereinbarungen nunmehr auch vor Gerichten durchzusetzen zu können. Der Gesetzgeber wollte mit der Regelung des § 2 Abs. 2 Satz 1 AO bilateralen Verabredungen zwischen zwei Steuerbehörden den Rang einer Rechtsverordnung verleihen (Konsultationsvereinbarungen). Danach wird das BMF mit Zustimmung des Bundesrates ermächtigt, Rechtsverordnungen zur Umsetzung von Konsultationsvereinbarungen zu erlassen. Konsultationsvereinbarungen haben das Ziel, Einzelheiten der Durchführung eines Doppelbesteuerungsabkommens zu regeln, insbesondere Schwierigkeiten oder Zweifel, die bei der Auslegung oder Anwendung des jeweiligen Abkommens bestehen, zu beseitigen.

Der Urteilsfall im Verfahren I R 37/17

Im Urteilsfall stritten die Beteiligten um die Anzahl der Nichtrückkehrtage i.S.d. Grenzgängerregelung des Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz und damit um die Frage, ob der Steuerpflichtige als Grenzgänger gilt. Die Finanzverwaltung wendete die Deutsch-Schweizerische Konsultationsvereinbarungsverordnung (KonsVerCHEV) wortgetreu an, wonach eintägige Geschäftsreisen in Drittstaaten stets zu den Nichtrückkehrtagen zählen (Art. 8 Abs. 5 Satz 2) sowie alle Wochenend- und Feiertage bei mehrtägigen Geschäftsreisen als Nichtrückkehrtage angesehen werden, wenn der Arbeitgeber die Reisekosten trägt (Art. 8 Abs. 1 Satz 3).

Der BFH stellt in seiner Entscheidung klar, dass eine Konsultationsvereinbarung auch nach Einführung des § 2 Abs. 2 Satz 1 AO keine Bindungswirkung für die Gerichte entfalten kann, wenn diese gegen den Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes verstößt. In diesem Fall ist diese als unwirksam zu verwerfen. Durch eine Rechtverordnung (hier KonsVerCHEV), kann keine Regelung getroffen werden, die einem Gesetz (hier DBA-Schweiz) widerspricht oder dessen Lücken ergänzt. Der Wortlaut des Gesetzes stellt dabei die „Grenzmarke“ für entsprechende Vereinbarungen dar. Durch Konsultationsvereinbarungen können insbesondere keine Regelungen getroffen werden, die über den Wortlaut des Gesetzes hinausgehen oder sogar im Widerspruch dazu stehen.

Tage, an denen der Steuerpflichtige von einer Geschäftsreise aus einem Drittland tatsächlich an seinen Wohnsitz zurückkehrt, können damit nicht zu den Nichtrückkehrtagen i.S.d. Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz zählen (entgegen Art. 8 Abs. 5 Satz 2 KonsVerCHEV). Bereits der Wortsinn des Begriffs Rückkehr schließt es aus, eine tatsächliche Rückkehr an den Wohnsitz als Nichtrückkehrtag anzusehen. Eine tatsächliche Rückkehr zum Wohnsitz unterstreicht eher die engere Bindung und damit das Besteuerungsrecht des Ansässigkeitsstaats. In ständiger Rechtsprechung sieht der BFH ein Verhandlungsprotokoll (hier Nr. II.2.) zu einem DBA als eine die Gerichte bindende Regelung an, wonach Geschäftsreisen an Wochenenden und Feiertagen grundsätzlich nicht zu den Nichtrückkehrtagen zählen, wenn der Arbeitgeber lediglich die Reisekosten übernimmt (entgegen Art. 8 Abs. 1 Satz 3 KonsVerCHEV). Anders könnte es sich nur dann verhalten, wenn die Arbeit an diesen Tagen ausdrücklich im Arbeitsvertrag vereinbart ist oder der Arbeitgeber für die an diesen Tagen geleistete Arbeit einen anderweitigen Freizeitausgleich oder ein zusätzliches Entgelt gewährt.

Unter diesen Umständen musste der BFH nicht mehr über die Frage entscheiden, ob die strittigen Regelungen der KonsVerCHEV wegen fehlender Bestimmtheit (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) der Ermächtigungsgrundlage des § 2 Abs. 2 AO zu verwerfen sind, denn der BFH hatte bereits an anderer Stelle entschieden, dass § 2 Abs. 2 AO als Ermächtigungsnorm nicht den Bestimmtheitsanforderungen genügt, die nach Art. 80 Abs. 1 GG an eine Verordnungsermächtigung zu stellen sind, und deshalb die Gerichte generell nicht bindet, vgl. BFH vom 10.06.2015 – I R 79/13, BStBl. II 2016 S. 326.

Einschätzung der Entscheidung und Handlungsempfehlung für die Finanzverwaltung

Das Urteil I R 37/17 sollte Strahlkraft weit über den konkreten Einzelfall hinaus entfalten.

Seit Inkrafttreten des § 2 Abs. 2 AO durch das JStG 2010 sind zahlreiche Konsultationsvereinbarungen geschlossen worden, insbesondere mit den USA, Belgien, den Niederlanden, Frankreich, der Schweiz, Österreich, etc. Die Finanzverwaltung wendet auf breiter Front rechtswidrig entsprechende Konsultationsvereinbarungen an, so dass Steuerpflichtige gezwungen werden, die zutreffende Rechtsauffassung vor den Finanzgerichten zu erstreiten (hierzu jüngst weitere Verfahren, z.B. FG Saarland vom 10.09.2020 – 2 V 1007/20 sowie FG Hessen vom 27.02.2020 – 9 K 353/19).

Bei allem Verständnis einer Typisierung im Rahmen von Konsultationsvereinbarungen erscheint es völlig unverhältnismäßig, wenn solche Regelungen getroffen werden, die nicht nur über den Wortlaut eines DBA hinausgehen, sondern teilweise sogar im Widerspruch dazu stehen und damit wie ein Treaty Override wirken sollen. Der Finanzverwaltung wird dringend empfohlen, die Besprechungsentscheidung I R 37/17 im BStBl. II zu veröffentlichen, damit die zuständigen Finanzbehörden die Entscheidung generell gegen vom Gesetz abweichende und damit rechtswidrige Konsultationsvereinbarungen anwenden können.

Ferner könnten diese strittigen Verfahren zukünftig dadurch entschärft werden, dass Konsultationsvereinbarungen entsprechende Öffnungsklauseln vorsehen. Z.B. könnte Art. 8 Abs. 5 Satz 2 KonsVerCHEV gänzlich gestrichen werden, da eintägige Reisen bereits implizieren, dass Arbeitnehmer am Reisetag an den Wohnsitz zurückkehren. Die von der Finanzverwaltung grundsätzlich vertretende Ansicht, wonach bei mehrtägigen Dienstreisen die Tage der Hin- und Rückreise stets zu den Nichtrückkehrtagen gelten, könnte z.B. wie folgt formuliert werden (vgl. z.B. Deutsch-Französische Konsultationsvereinbarungsverordnung vom 29.12.2010, § 7 Abs. 5 sowie BMF-Schreiben vom 03.04.2006 – IV B 6-S 1301, BStBl. I 2006 S. 304, Tz. 6): „Bei mehrtägigen Dienstreisen gelten die Tage der Hinreise sowie der Rückreise stets zu den Nichtrückkehrtagen, es sei denn, der Arbeitnehmer ist tatsächlich vor der Abreise zwischen seinem Wohnsitz und dem Arbeitsort in der Grenzzone gependelt oder tatsächlich am Rückreisetag an seinen Wohnsitz zurückkehrt oder hat innerhalb der Grenzzone gearbeitet.“

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