IDW S1 vs. vereinfachtes Ertragswertverfahren: das Wahlrecht steht allein dem Steuerpflichtigen zu

Caroline Ruschen, Associate bei POELLATH, Frankfurt/M.

Kann ein Unternehmenswert für steuerliche Zwecke nicht anhand von tatsächlich durchgeführten Verkäufen unter fremden Dritten, die weniger als ein Jahr zurückliegen, ermittelt werden, hat der Steuerpflichtige die Wahl zwischen dem sog. vereinfachten Ertragswertverfahren oder einem anderen anerkannten Bewertungsverfahren. Weist die vom Steuerpflichtigen vorgelegte Bewertung Mängel auf, stellte sich bislang die Frage, inwieweit Finanzverwaltung und Rechtsprechung an die vom Steuerpflichtigen gewählte Bewertungsmethode gebunden sind. Mit dieser Frage hat sich der BFH in seinem Urteil vom 02.12.2020 (II R 5/19) auseinandergesetzt.

Hintergrund

Die Bewertung von Unternehmensanteilen richtet sich für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer nach dem Bewertungsgesetz. Anteile an Kapitalgesellschaften, die nicht an der Börse notiert sind, werden grundsätzlich unter Berücksichtigung der Wertverhältnisse zum Bewertungsstichtag bewertet (§ 157 Abs. 4 BewG). Maßgeblich ist der gemeine Wert (§ 11 Abs. 2 BewG), welcher primär aus vergleichbaren Verkäufen unter fremden Dritten innerhalb eines Jahres abzuleiten ist. Ist dies nicht möglich, sind sekundär die Ertragsaussichten der Kapitalgesellschaft oder andere branchentypische Bewertungsverfahren heranzuziehen. Solche können insbesondere der Bewertungsstandard IDW S1, das DCF-Verfahren oder das Multiplikatorverfahren sein. Der Substanzwert darf dabei nicht unterschritten werden (§ 11 Abs. 2 Satz 3 BewG).

Daneben räumt § 11 Abs. 2 Satz 4 BewG dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit der Bewertung durch Anwendung des vereinfachten Ertragswertverfahrens ein. Voraussetzung ist, dass dieses nicht zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt. Nach Ansicht der Finanzverwaltung ist dies vor allem dann der Fall, wenn Verkäufe zeitnah nach dem Bewertungsstichtag oder mehr als ein Jahr vor diesem liegen (vgl. R B 199.1 Abs. 5 und 6 ErbStR 2019). Im Rahmen der Bewertung wird der zu prognostizierende Jahresertrag in der Regel aus den Betriebsergebnissen der letzten drei abgelaufenen Wirtschaftsjahre abgeleitet, um außergewöhnliche Geschäftsvorfälle korrigiert (§ 202 BewG) und schließlich mit einem Kapitalisierungsfaktor von 13,75 multipliziert (§ 203 BewG).

Dem Gesetzeswortlaut kann nicht entnommen werden, in welchem Verhältnis das vereinfachte Ertragswertverfahren zu anderen anerkannten ertragswertorientierten Bewertungsmethoden steht. Daraus entstand die Frage, wie der Verweis des § 11 Abs. 2 Satz 4 BewG auf die §§ 199 ff. BewG zu verstehen ist. Teilweise wurde in der Literatur vertreten, dass es sich um eine verbindliche Anwendungsregelung handele und das vereinfachte Ertragswertverfahren im Ergebnis das Regelbewertungsverfahren innerhalb der ertragsorientierten Bewertung darstelle. Andere Literaturstimmen sahen in dem Verweis eine lediglich klarstellende Konkretisierung des ohnehin in § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG vorgesehenen Ertragswertverfahrens.

In diesem Spannungsfeld erging nun das Urteil des BFH vom 02.12.2020.

Sachverhalt

Klägerin ist die Ehefrau eines 2011 verstorbenen Erblassers, welcher an einer GmbH beteiligt war und ein Gewinnbezugsrecht von ca. 17% hatte. Im Anschluss an eine Außenprüfung erging 2015 gegenüber der Klägerin ein Feststellungsbescheid für Zwecke der Erbschaft-steuer. Darin stellte der Beklagte (das Finanzamt) den Wert der Beteiligung des Erblassers unter Anwendung des vereinfachten Ertragswertverfahrens fest.

Ihren Einspruch begründete die Klägerin damit, dass das vereinfachte Ertragswertverfahren in ihrem Fall zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führe und legte stattdessen eine gutachterliche Stellungnahme eines Wirtschaftsprüfers vor. Dieser kam unter Anwendung des Standards IDW S1 zu einem abweichenden Wert. Der im Folgenden wesentliche Streitpunkt lag vor allem darin, dass das Gutachten nicht vollständig nach dem IDW-Standard erstellt wurde, da erforderliche Unterlagen teilweise fehlten und von der Klägerin als Minderheitsgesellschafterin der GmbH nicht beschafft werden konnten. Die Ertragsprognose basierte vor allem auf historischen Jahresergebnissen. Branchen- und Wettbewerbsanalysen sowie Plausibilitätsbeurteilungen fehlten.

Nach erfolglosem Einspruch hatte auch die Klage nur teilweise Erfolg (FG Düsseldorf vom 12.12.2018 – 4 K 108/18 F). Das Finanzgericht vertrat die Ansicht, das von der Klägerin vorgelegte Gutachten sei wegen der Mängel nicht zu berücksichtigen und erlaube keine Herabsetzung des Anteilswertes. Das vereinfachte Ertragswertverfahren führe nicht zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen. Das Finanzgericht ließ die Revision im Hinblick auf den mehrdeutigen Wortlaut von § 11 Abs. 2 BewG zu. Mit ihrer Revision rügte die Klägerin die Nichtberücksichtigung der gutachterlichen Stellungnahme nach IDW S1. Das Gericht habe gegen § 11 Abs. 2 BewG sowie gegen seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung verstoßen (§ 76 Abs. 1 FGO).

Entscheidung des BFH

Der BFH hielt die Revision der Klägerin für begründet und verwies die Sache mangels Entscheidungsreife an das Finanzgericht zurück:

1. Kein Vorrang des vereinfachten Ertragswertverfahrens

Der BFH stellte ausdrücklich klar, dass weder ein Vorrang noch eine Vermutung für die Richtigkeit des nach dem vereinfachten Ertragswertverfahren ermittelten Wertes bestehe. Der Steuerpflichtige, der eine Wertermittlung unter Anwendung einer individuellen Ertragswertmethode (z.B. IDW S1) vornehme, müsse nicht gesondert die Vorzugswürdigkeit seiner gewählten Bewertungsmethode darlegen. Das Gesetz räume allein dem Steuerpflichtigen das Wahlrecht ein, nach dem vereinfachten Ertragswertverfahren zu bewerten. Nur für den Fall, dass dieses zu offensichtlich unrichtigen Ergebnissen führe, solle die Finanzverwaltung die Anwendung ablehnen können. Übe der Steuerpflichtige sein Wahlrecht aus, indem er ein IDW-Gutachten vorlege, sei der Rückgriff auf das vereinfachte Ertragswertverfahren durch die Finanzverwaltung gesperrt. Dies sei selbst dann bindend, wenn der Wert methodisch unzureichend ermittelt worden sei.

2. Sachaufklärungspflicht des Finanzgerichts

Der BFH weist weiterhin auf die Sachaufklärungspflicht des Finanzgerichts hin, welche auch in Bewertungsfragen gelte. Zwar sei dieses nicht an ein außergerichtlich eingeholtes Gutachten einer Partei gebunden. Das Gutachten sei von dem Gericht jedoch bei seiner Entscheidung zugrunde zu legen, soweit es von der Ordnungsmäßigkeit überzeugt sei. Bestehe Streit über die Methodik des Gutachtens, sei das Finanzgericht zur weiteren Sachaufklärung verpflichtet (§ 76 Abs. 1 FGO). Eine vollständige Nichtberücksichtigung des Gutachtens sei nicht zulässig. Das Gericht müsse bestehende Lücken entweder von Amts wegen schließen oder dem Steuerpflichtigen die Nachbesserung auferlegen.

3. Stichtagsprinzip und IDW S1

Am Rande wies der BFH darauf hin, dass es mit dem Stichtagsprinzip (§ 11 ErbStG) grundsätzlich vereinbar sei, in der Zukunft liegende Verhältnisse in die Bewertung einzubeziehen. Voraussetzung sei, dass sich diese im Zeitpunkt des Bewertungsstichtags bereits als hinreichend konkret und absehbar darstellen. Die Frage ist vor allem für die eher zukunftsorientierte Bewertung nach IDW S1 von Bedeutung.

4. Zurückverweisung

Da das Finanzgericht das IDW-Gutachten ohne Sachaufklärung vollständig nicht berücksichtigt hat, fehlten die zur Ermittlung des Wertes erforderlichen Feststellungen. Daher verwies der BFH die Sache an das Finanzgericht zurück. Dieses hat die erforderlichen Feststellungen im zweiten Rechtsgang nachzuholen.

Bedeutung für die Praxis

Der BFH liefert durch seine Entscheidung Klarheit über die Auslegung des § 11 Abs. 2 BewG und die Frage der Methodenkonkurrenz zwischen dem vereinfachten und den individuellen Ertragswertverfahren. Zu beachten ist, dass sich die Entscheidung des BFH nur auf ertragswertorientierte Bewertungsmethoden bezieht. Möchte der Steuerpflichtige andere anerkannte Methoden (z.B. die Multiplikatorenmethode) anwenden, muss er im Zweifel die Vorzugswürdigkeit gegenüber dem Ertragswertverfahren darlegen.

Der Steuerpflichtige hat es nach der BFH-Entscheidung nun in der Hand, der Finanzverwaltung den Rückgriff auf das vereinfachte Ertragswertverfahren zu verwehren. Diese kann selbst unter Hinweis auf eine methodisch fehlerhafte Bewertung nicht darauf zurückgreifen. In diesem Fall kann der Steuerpflichtige sogar noch nachträglich Fehler korrigieren.

Das Urteil erging zur Erbschaftsteuer. Da das vereinfachte Ertragswertverfahren seit Streichung der ausdrücklichen Beschränkung auf Bewertungen für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer (ursprünglich in Abschn. 1 Gleichlautende Ländererlasse vom 25.06.2009, BStBl. I 2009 S. 698) für Bewertungsstichtage nach dem 30.06.2011 auch für ertragsteuerliche Zwecke gilt (vgl. BMF vom 22.09.2011, BStBl. I 2011 S. 859), dürften die Grundsätze aus dem Urteil entsprechend übertragbar sein. Es bleibt abzuwarten, wie die Finanzverwaltung auf das Urteil reagiert und ob sie dieses im Bundessteuerblatt veröffentlichen wird.

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