Kartellrechtlicher Schadensersatzprozess – OLG Hamm zur Einsicht in Kronzeugenanträge

RA Dr. Carsten Grave, Partner, Linklaters LLP, Düsseldorf

RA Dr. Carsten Grave, Partner, Linklaters LLP, Düsseldorf

Das OLG Hamm hat es mit Beschluss vom 26. 11. 2013 – 1 VAs 116/13 u. a. einem Zivilgericht gestattet, für Zwecke eines kartellrechtlichen Schadensersatzprozesses Einsicht in Kronzeugenanträge zu nehmen. Es setzt damit einen Kontrapunkt zur kürzlichen kronzeugen-freundlichen Entscheidungspraxis des AG Bonn (Beschluss vom 18. 1. 2012 – 51 Gs 53/09, Pfleiderer) und des OLG Düsseldorf (22. 8. 2012 – V-4 Kart 5+6/11 OWi, Kaffeeröster).

Die Entscheidung

In den Jahren 2003 und 2006 erhielten die EU-Kommission bzw. das BKartA Kronzeugenanträge eines Herstellers von Aufzügen. Die Kommission eröffnete ein Kartellverfahren und verhängte schließlich Bußgelder gegen diverse Aufzughersteller (Kommission, Entscheidung vom 21. 2. 2007 – COMP/E-1/38.823; s. dazu auch EuG-Urteil vom 13. 7. 2011 – Rs. T-144/07 u. a., und vom 13. 7. 2011 – T-141/07 u. a.; EuGH vom 15. 6. 2012 – Rs. C-494/11 P).

Wegen der vorrangigen Zuständigkeit der Kommission eröffnete das BKartA kein Verfahren gegen die Unternehmen, sondern übersandte wegen des Verdachts auf Submissionsbetrug nach § 298 StGB den Kronzeugenantrag Mitte 2006 an die Staatsanwaltschaft Düsseldorf. Diese ermittelte, stellte aber letztlich ihre Verfahren gegen sämtliche natürlichen Personen ein.

Später erhoben verschiedene Bauunternehmen vor dem LG Berlin Klage auf Schadenersatz erhoben (Az. 96 O 200/10 Kart). Das LG Berlin ordnete die Beiziehung der Akten der StA Düsseldorf an und ersuchte diese Ende 2012 um Übersendung der Akten. Die StA Düsseldorf teilte den beklagten Aufzugherstellern mit, dass sie dem Gesuch des LG Berlin stattgeben wolle. Dagegen wandten die Aufzughersteller sich mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 23 ff. EGGVG.

Das OLG Hamm hat die Entscheidung der StA Düsseldorf bestätigt, weil dem LG Berlin nach § 474 StPO Akteneinsicht zu gewähren sei.

Akteneinsicht „für Zwecke der Rechtspflege“ müsse auch einem Zivilgericht gewährt werden. Die Erforderlichkeit der Akteneinsicht habe die StA Düsseldorf zu Recht nur kursorisch geprüft (das Korrektiv dafür ist allerdings eine Prüfungspflicht des ersuchenden Gerichts, dazu sogleich). Das OLG Hamm hält selbst den Kronzeugenantrag nicht für „eine ungewöhnliche Art von Daten“, sondern für „nichts anderes als eine selbstbelastende Einlassung von an Ordnungswidrigkeiten Beteiligten“ (OLG Hamm, a.a.O., Rdn. 58-61). Daran änderten auch die möglichen Auswirkungen auf das Kronzeugenprogramm nichts (die das OLG Hamm durchaus sieht, vgl. a.a.O., Rdn. 61), ebenso wenig die Zusage der Vertraulichkeit durch die Kartellbehörde.

Die gesetzgeberischen Vorarbeiten zum Schutz von Kronzeugenanträgen – § 81b GWB i. d. F. des RegE zur 8. GWB-Novelle und Art. 6 Abs. 1 lit. a des Vorschlags (der Kommission) für eine Richtlinie über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen […] wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen […] vom 11. 6. 2013 – COM(2013) 404 final – hält das OLG Hamm für nicht relevant, weil keine dieser Regelungen derzeit Gesetzeskraft habe (OLG Hamm, a.a.O., Rdn. 93).

Weiter sieht das OLG Hamm auch nicht den Zweck des Strafverfahrens entgegenstehen (§ 477 Abs. 2 Satz 12 StPO): Das Verfahren, aus dem die Akten stammen, sei bereits abgeschlossen, sodass sein Zweck nicht mehr gefährdet werden könne. Der Zweck eines „anderen“ Strafverfahrens könne nach Auffassung des OLG Hamm nur gefährdet werden, wenn es ein konkretes weiteres Verfahren bereits gebe und sich im Einzelfall die Gefährdung dessen Untersuchungszwecks belegen lasse (OLG Hamm, a.a.O., Rdn. 84). Das OLG Hamm vertritt damit eine dezidiert andere Auffassung als AG Bonn und OLG Düsseldorf, weist aber darauf hin, dass es durchaus Unterschiede zwischen den Akteneinsichtsrechten eines Zivilgerichts und eines Geschädigten (§ 406e StPO) geben könne.

Institutions matter?

Ist es nun Zufall, dass gerade das AG Bonn und das OLG Düsseldorf eine Rechtsauffassung vertreten, welche der Funktionsfähigkeit des Kronzeugenprogramms des BKartA einen hohen Rang einräumt? Es sind jedenfalls die beiden Gerichte, die nahezu routinemäßig mit dem Kartellrecht – und dem BKartA – befasst sind: Das AG Bonn erlässt Durchsuchungsbeschlüsse zugunsten des BKartA und entscheidet über die Rechtmäßigkeit von Ermittlungsmaßnahmen des BKartA. Das OLG Düsseldorf entscheidet über die Rechtmäßigkeit praktisch aller Entscheidungen des BKartA; zudem ist es für ganz Nordrhein-Westfalen das (einzige) Kartellzivilgericht auf OLG-Ebene. Folgerichtig dürfte Kartellrecht kaum einmal Gegenstand von Entscheidungen des OLG Hamm sein. Bei dem OLG Hamm handelt es sich natürlich um ein erfahrenes Strafgericht – das zudem in der Strafrechtspflege landesweit für Entscheidungen nach §§ 23 ff. EGGVG zuständig ist (§ 12 Nr. 1 JustG NRW i. V. mit § 25 EGGVG) .

Den unterschiedlichen Rechtsmeinungen betreffend das in §§ 406e und 477 StPO gleichlautende Tatbestandsmerkmal „Gefährdung des Untersuchungszwecks eines anderen Strafverfahrens“ wird sich jedenfalls früher oder später der BGH zuwenden müssen.

Lückenloser Schutz ist schwierig

Der entschiedene Fall mag Besonderheiten aufweisen, die sich der Verallgemeinerung entziehen, z. B. ein Kronzeugenantrag beim BKartA, nachdem die Kommission bereits Durchsuchungen durchgeführt hatte. Er illustriert aber, dass der vollständige Schutz der Vertraulichkeit von Kronzeugenanträgen ohne spezialgesetzliche Regelung trotz des klaren Bekenntnisses der Kartellbehörden zu dieser Vertraulichkeit schwer zu bewerkstelligen ist.

Denn natürlich muss die Kartellbehörde mit ihrer Zusage der Vertraulichkeit im Rahmen der Gesetze bleiben (worauf das BKartA in Rdn. 21 f der Bonusregelung hinweist). Sie kann also ihre Pflicht nicht ignorieren, nach § 41 Abs. 1 OWiG bei Verdacht auf eine Straftat das Verfahren – jedenfalls gegen die natürlichen Personen (vgl. OLG Hamm, a.a.O., Rdn. 109) – an die StA abzugeben (so ausdrücklich BKartA, Bonusmitteilung, Rdn. 24).

Wegen der Anwendbarkeit des § 298 StGB auf ausschreibungsähnliche Beschaffungsvorgänge von privaten Unternehmen ist dieser Verdacht allerdings schnell begründet – und der Kronzeuge wird es wegen seiner Verpflichtung, die Tat erschöpfend zu schildern (vgl. BKartA, Bonusmitteilung, Rdn. 6 ff.), kaum vermeiden können, die entsprechenden Sachverhalte zu beschreiben.

Wer zuletzt lacht …

Es scheint also, als hätten nach den Niederlagen in Pfleiderer und Kaffeeröster die Akteneinsicht begehrenden Schadensersatz-Kläger einen Sieg errungen – aber es ist wohl nur ein Etappensieg. Das OLG Hamm weist nämlich nachdrücklich darauf hin, dass die Akteneinsicht zugunsten eines Zivilgerichts nur deshalb vergleichsweise großzügig gehandhabt werden kann, weil das Zivilgericht selbst  prüfen muss, in welchem Umfang es nun den streitenden Parteien den Inhalt der Akte der StA Düsseldorf zugänglich machen kann (OLG Hamm, a.a.O., Rdn. 49 ff.). Der rechtliche Maßstab dafür ist bestenfalls unklar. Den zivilprozessualen Beibringungsgrundsatz lässt das OLG Hamm jedenfalls unangetastet, sodass die Akte der StA Düsseldorf zwar als Beweismittel herangezogen werden mag – aber erst nachdem die Kläger entsprechend substanziiert vorgetragen haben. Dies scheint im Verfahren vor dem LG Berlin der Fall gewesen zu sein, da das Gericht sein Gesuch im Zuge eines Beweisantrags des Klägers stellte (OLG Hamm, a.a.O., Rdn. 47). Bevor das LG Berlin aber Teile der Akte dem Kläger zugänglich machen kann, muss es sich mit der Vertraulichkeit des Kronzeugenantrags auseinandersetzen. Grundsätzlich müssen die Prozessparteien zum Ergebnis der Beweisaufnahme verhandeln können (vgl. § 285 Abs. 1 ZPO), was voraussetzt, dass ihnen – beiden – die relevanten Schriftstücke zugänglich gemacht werden. Für Unterlagen, welche Dritte nach § 142 Abs. 1 ZPO vorzulegen hat, ist das schon so entschieden worden (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 19. 9. 2012– 13 W 90/12). Allerdings hätte ein Dritter bei „Unzumutbarkeit“ (§ 142 Abs. 2 ZPO) die Vorlage verweigern können, und man mag sagen: wenn er sich darauf nicht beruft, hat er sich stillschweigend mit der Vorlage der Urkunden an die Prozessparteien einverstanden erklärt. Eine vergleichbare Prüfung ist der aktenführenden StA aber gerade verwehrt (s. o.) und muss daher nun durch das LG Berlin erfolgen. Der Streit ist also nur von der StPO (und dem OWiG) in die ZPO verlagert. Der Ruf nach dem Gesetzgeber wird bleiben.

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