Bei dem Europäischen Gerichtshof ist ein Rechtsstreit anhängig, in dem sich die Gewerkschaften IG Metall und ver.di mit der SAP SE über die Besetzung des Aufsichtsrats streiten (Aktenzeichen C-677/20). Für die Rechtsform der SE kann das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu einem Wendepunkt werden.
Der Fall SAP
SAP wandelte sich 2014 von einer deutschen AG in eine SE um. Als deutsche AG unterlag SAP den Regelungen des deutschen Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG). Danach gehören dem Aufsichtsrat zwingend Mitglieder an, die von im Unternehmen vertretenen Gewerkschaften vorgeschlagen werden. Sie werden in einem gesonderten Wahlgang gewählt, in dem ausschließlich von den Gewerkschaften vorgeschlagene Personen zur Auswahl stehen.
Kernfrage des EuGH-Verfahrens: Nach dem MitbestG ist der getrennte Wahlgang für Wahlvorschläge der Gewerkschaften zwingend vorgeschrieben. Muss dieser getrennte Wahlgang im Fall der Umwandlung einer mitbestimmten deutschen AG in eine SE zwingend beibehalten werden?
Das Bundesarbeitsgericht hatte sich zuvor mit dem Fall befasst (Aktenzeichen 1 ABR 43/18 (A)). Es musste das Verfahren aus EU-rechtlichen Gründen aber zunächst aussetzen und dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorlegen.
Hintergrund des Verfahrens
Im Rahmen der Umwandlung in eine SE schloss SAP mit den Arbeitnehmern eine Beteiligungsvereinbarung (§ 21 SEBG), in der unter anderem die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat der SE geregelt ist.
Nach der Beteiligungsvereinbarung besteht der ursprünglich aus achtzehn Mitgliedern bestehende Aufsichtsrat zur Hälfte aus Arbeitnehmervertretern. Ein Teil der Arbeitnehmersitze ist für Personen reserviert, die von im Betrieb vertretenen Gewerkschaften vorgeschlagen und von den Arbeitnehmern zu wählen sind.
Nach der Beteiligungsvereinbarung kann der Aufsichtsrat auf zwölf Sitze verkleinert werden. Wenn dies geschieht, können die Gewerkschaften zwar noch Wahlvorschläge für die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer unterbreiten. Ein getrennter Wahlgang findet im verkleinerten Aufsichtsrat aber nicht mehr statt.
Im Jahr 2016 wurde bekannt, dass SAP beabsichtigte, den Aufsichtsrat auf zwölf Mitglieder zu verkleinern. Daraufhin fochten die Gewerkschaften IG Metall und ver.di die betreffenden Regelungen der Beteiligungsvereinbarung an. Außerdem beantragten sie, es dem Vorstand zu untersagen, der Hauptversammlung von SAP eine solche Verkleinerung des Aufsichtsrats vorzuschlagen.
Schlussanträge des Generalanwalts
In Vorlageverfahren bei dem Europäischen Gerichtshof gehen dem Urteil sogenannte Schlussanträge voraus, die von den Generalanwälten bei dem Europäischen Gerichtshof gestellt werden. Meistens folgen die Richter in ihrer anschließenden Entscheidung den Schlussanträgen.
In dem SAP-Verfahren hat der Generalanwalt Jean Richard de la Tour am 28. April 2022 seine Schlussanträge vorgelegt. Er vertritt darin die Ansicht, dass das getrennte Wahlverfahren ein zwingendes Element der Mitbestimmung ist, das im Fall der Umwandlung einer deutschen AG in eine SE beibehalten werden muss.
Er stützt sich vor allem auf das Argument, dass der gesonderte Wahlgang für die Gewerkschaftsvertreter ein prägendes Element der Arbeitnehmerbeteiligung in Deutschland sei und deshalb nicht in einer Beteiligungsvereinbarung abbedungen werden könne..
Überzeugend ist das nicht: Legt man die EU-weit gültigen Regeln über die SE im Licht des mitgliedstaatlichen Rechts aus, leistet dies Kleinstaaterei und einer Zersplitterung des Rechts in der EU Vorschub. Rechts- und Investitionssicherheit bleiben auf der Strecke. Die mit der SE angestrebte, EU-weite Harmonisierung wird unterlaufen, der vom EU-Gesetzgeber mit der SE verfolgte Zweck missachtet.
Nächste Schritte und Konsequenzen
Nun sind die Richter des Europäischen Gerichtshofs am Zug: Sollten sie in ihrem noch zu erlassenden Urteil der Ansicht des Generalanwalts folgen, hätte dies unmittelbare Auswirkungen auf SAP. Die Beteiligungsvereinbarung wäre voraussichtlich teilweise unwirksam. Bei künftigen Wahlen der Arbeitnehmervertreter hätten die IG Metall und ver.di weiter ein Vorschlagsrecht, über das getrennt abgestimmt wird.
Entsprechendes würde für sämtliche SE gelten, die durch Umwandlung einer deutschen AG entstanden sind und als deutsche AG dem MitbestG unterlagen. Für neu zu gründende SE würde sich der Gestaltungsspielraum für Beteiligungsvereinbarungen verringern.
Diese Grundsätze würden voraussichtlich auch in Europäischen Genossenschaften sowie bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen, Umwandlungen und Spaltungen gelten. Die Attraktivität der SE und dieser weiteren transnationalen Gestaltungsformen würde darunter leiden.
Fazit und Ausblick
Für die Rechtsform der SE kann das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu einem Wendepunkt werden. Zwar wären die Folgen einer Entscheidung, die den Schlussanträgen folgt, verkraftbar. Die Rechtsform der SE würde aber Vorteile im Wettbewerb mit der deutschen AG verlieren und dadurch weniger attraktiv.
Sollten die Richter dem Generalanwalt folgen, stellt sich die Frage, ob dasselbe wie für den getrennten Wahlgang auch für andere Besonderheiten des deutschen Mitbestimmungsrechts gilt. Müssen beispielsweise alle SE, die aus einer deutschen AG hervorgegangen sind und als solche dem MitbestG unterlagen, wieder einen Arbeitsdirektor haben?
Für die deutschen Gewerkschaften könnte sich der SAP-Fall schließlich noch als Pyrrhussieg erweisen: Der Generalanwalt befürwortet, das Vorschlagsrecht mit getrenntem Wahlgang allen in einem Unternehmen vertretenen Gewerkschaften und allen betroffenen Arbeitnehmern einzuräumen. Aufsichtsräte deutscher Gesellschaften würden dadurch für ausländische Gewerkschaften geöffnet. Dagegen haben sich die deutschen Gewerkschaften in der Vergangenheit vehement gesträubt.
Eine stärkere Internationalisierung der Aufsichtsräte wäre aber nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation der im Ausland beschäftigten Mitarbeiter gerecht, sondern würde auch die deutsche Corporate Governance stärken.