In seinem Urteil vom 05.06.2014 (Rs. C-557/12 – Kone) hat der Gerichtshof entschieden, dass das Kartellverbot des AEUV (Art. 101 AEUV) dahingehend auszulegen ist, dass diese Bestimmung einer Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach es aus Rechtsgründen kategorisch ausgeschlossen ist, dass die an einem Kartell beteiligten Unternehmen zivilrechtlich für Schäden haften, die daraus resultieren, dass ein an diesem Kartell nicht beteiligtes Unternehmen in Anbetracht der Machenschaften des Kartells seine Preise höher festgesetzt hat, als es dies ohne das Kartell getan hätte. Im Ergebnis hat der Gerichtshof es den nationalen Gerichten überlassen, im jeweiligen Einzelfall unter Würdigung aller Umstände, vor allen Dingen der Marktverhältnisse, darüber zu befinden, ob die Mitglieder eines Kartells auch dafür haften, dass Nichtkartellanten unter dem Schirm des Kartells Preise verlangen konnten, die sie in einem effektiv funktionierenden Markt nicht hätten verlangen können.
Hintergrund und Verfahren
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens vor dem österreichischen Obersten Gerichtshof, ÖBB-Infrastruktur, ist mit der Errichtung und Erhaltung von Bahnhöfen in Österreich betraut. Einen Teil der Klage auf Ersatz von Schäden aus dem Kartell gegen die vier Kartellanten des Aufzugs- und Fahrtreppenkartells (Kone, Otis, Schindler, ThyssenKrupp) hat die ÖBB-Infrastruktur darauf gestützt, dass ein Kartellaußenseiter ihr im Windschatten der Machenschaften des Kartells deutlich höhere Preise in Rechnung gestellt habe als dies unter normalen Wettbewerbsbedingungen, also ohne das Kartell, möglich gewesen wäre.
Der Oberste Gerichtshof war der Auffassung, dass nach österreichischem Recht die Haftung der Kartellanten für Schäden aus Preisschirmeffekten wegen fehlender Kausalität und fehlenden Rechtswidrigkeitenzusammenhangs Preissetzung ausgeschlossen ist. Der Oberste Gerichtshof sah sich aber veranlasst, die Rechtsfrage dem EuGH nach Art. 267 AEUV vorzulegen, da bei Anwendung seiner Auffassung der Effektivitätsgrundsatz des europäischen Rechts beeinträchtigt werden könnte, weil es an einer ausreichenden Sanktionierung des Kartells für derartige Preisschirmeffekte fehlen könnte.
Das Urteil des EuGH vom 05.06.2014
Auf der Grundlage seiner Urteile Courage, Manfredi und Otis stellt der Gerichtshof klar, dass jedermann Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen kann, wenn zwischen dem Schaden und einem nach Art. 101 AEUV verbotenen Kartell oder anderem wettbewerbsbeschränkenden Verhalten ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Da es (anders als dies Generalanwältin Kokott annahm) keine einschlägige Unionsregelung zur Kausalität gebe, ist die Regelung der Modalitäten für die Ausübung dieses Rechts einschließlich derjenigen für die Anwendung des Begriffs „ursächlicher Zusammenhang“ Aufgabe der innerstaatlichen Rechtsordnung der EU Mitgliedstaaten. Im Ausgangsverfahren war anerkannt, dass es Marktphänomene wie das „Umbrella Pricing“ u. U. als mögliche Folge eines Kartells geben könne. Der Kartellaußenseiter treffe seine Entscheidung über die Festsetzung eines Angebotspreises zwar autonom. Diese Entscheidung werde aber immer unter Berücksichtigung des Marktpreises getroffen, der seinerseits durch das Kartell verfälscht und damit wettbewerbswidrig geworden ist.
Bei der Auslegung des Begriffs „ursächlicher Zusammenhang“ müssen die nationalen Regeln jedoch die volle Wirksamkeit des Wettbewerbsrechts der Union sicherstellen. Sie müssen speziell das mit Art. 101 AEUV verfolgte Ziel berücksichtigen, das darin besteht, die Aufrechterhaltung eines wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt zu gewährleisten einschließlich eines Preisniveaus, das unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs festgesetzt wird. Die volle Wirksamkeit nach Art. 101 AEUV wäre aber nicht gewährleistet, wenn nach dem nationalen Recht kategorisch und unabhängig von den speziellen Umständen des konkreten Falls eine Haftung der Kartellanten für überhöhte Preise eines Kartellaußenseiters ausgeschlossen wird, wenn dessen Preispolitik eine Folge des Kartells ist. Das nationale Gericht muss prüfen, ob das Kartell nach den Umständen des konkreten Falls und insbesondere den Besonderheiten des betreffenden Marktes ein „Umbrella Pricing“ durch eigenständig handelnde Dritte zur Folge haben konnte und ob diese Umstände und Besonderheiten den Kartellbeteiligten nicht verborgen bleiben konnten.
Kommentar
Das Urteil des EuGH überrascht in der Sache vor dem Hintergrund seiner „Jedermann“-Rechtsprechung nicht. Der EuGH hat aber deutlich darauf hingewiesen, dass bei der Prüfung der Haftung von Kartellanten für überhöhte Preise von Kartellaußenseitern auf die konkreten Umstände des Einzelfalls, insbesondere des betroffenen Marktes, abzustellen ist.
Um einen relevanten Umbrella-Pricing-Effekt feststellen zu können, muss das Kartell eine gewisse Wirkung am Markt gehabt haben. Das Kartell muss – wie im Ausgangsfall – einen derartigen Umfang erreicht haben, dass auch Wettbewerber, die nicht am Kartell teilnehmen und die möglicherweise von dem Kartell nichts wussten, das kartellbedingt erhöhte Preisniveau zur Kenntnis nehmen konnten.
Die Kartellanten hatten versucht, sich hinsichtlich mehr als der Hälfte des Marktvolumens in ganz Österreich für Neuanlagen zu koordinieren. Bei mehr als der Hälfte der betreffenden Projekte sei eine einvernehmliche Zuteilung erfolgt, so dass mindestens ein Drittel des Marktvolumens abgesprochen worden sei. Ungefähr zwei Drittel der abgestimmten Projekte seien wie geplant zustande gekommen. Bei einem Drittel der Fälle seien entweder dritte Unternehmen (Kartellaußenseiter) zum Zuge gekommen oder einer der Kartellbeteiligten habe sich nicht an die vereinbarte Zuteilung gehalten und billiger angeboten.
Um einen Anspruch eines Geschädigten für Preisschirmeffekte annehmen zu können, ist ferner erforderlich, dass auf dem Markt tatsächlich Wettbewerb stattfindet. Im vorliegenden Fall gab es immer wieder Wettbewerb um bestimmte Aufträge und Projekte. Ist ein Markt allerdings durch eine Vielzahl von Bestandskunden gekennzeichnet und durch Wechselträgheit sowie z. B. durch hohe Wechselkosten, ist eine Wechselbereitschaft und eine Relevanz der vom Kartellaußenseiter verlangten Preise tendenziell zu verneinen. Dasselbe gilt, wenn der Markt nicht durchgängig in etwa gleich hohe Preise zeigt, sondern es Außenseiter gibt, die möglicherweise bewusst und deutlich unter den Preisen des Kartells (und eventuell anderer Nichtkartellanten) anbieten, z. B. um sich einen Marktzutritt zu verschaffen oder Marktanteile zu gewinnen.
Für die Frage der Kausalität ist ferner von Relevanz, inwieweit das Preissetzungsverhalten der Kartellaußenseiter tatsächlich auf ihrer Kenntnis von den am Markt erkennbaren Preisen abhängt oder ob die Außenseiter ihre Preise unabhängig von den Preisen des Wettbewerbs aufgrund besonderer Qualität oder eines besonders hohen Marktanteils ohnehin weitgehend unabhängig von den Marktpreisen setzen können.
RA Dr. Ulrich Schnelle, Partner, und RA Dr. Volker Soyez, Partner, HAVER & MAILÄNDER Rechtsanwälte