„Gute Arbeit. Faire Bezahlung.“ Mit diesen plakativen Schlagworten hat die Politik als Gegenleistung für geleistete Arbeit den gesetzlichen Mindestlohn (derzeit: 8,50 € / ab 01.01.2017: 8,84 €) eingeführt. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Urteil vom 29.06.2016 (5 AZR 716/15) nun nach dem Motto „Zeit ist Geld!“ entschieden, dass dieser Mindestlohn auch für Zeiten zu zahlen ist, in denen der Arbeitnehmer gerade nicht arbeitet, sondern sich lediglich zur Arbeit bereithält.
Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn bei Bereitschaftszeiten
Der klagende Rettungsassistent hatte auch für Bereitschaftszeiten seine übliche Vergütung in Höhe von 15,81 € brutto je Arbeitsstunde eingeklagt, da ihm Bereitschaftszeiten angeblich nicht vergütet worden seien. Mit dieser Rechtsauffassung hat er jedoch in allen Instanzen verloren. Denn nach Auffassung der Gerichte schuldet der Kläger nach dem einschlägigen Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes eine Mischung aus Vollarbeit und Bereitschaftszeit, die insgesamt mit dem tariflichen Entgelt abgegolten werde. Auch das Mindestlohngesetz (MiLoG) ändere daran nichts. Der Zahlungsanspruch des Klägers sei bereits erfüllt worden, und zwar mit 2.680 € brutto nebst Zulagen (deutlich) oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns (228 Arbeitsstunden zu 8,50 € = 1.938 € brutto).
Bereitschaftszeit = Arbeitszeit: Ausweitung des Anwendungsbereichs des MiLoG
So weit so gut. Spannend ist jedoch, dass nach Auffassung des BAG der Mindestlohn für jede „geleistete Arbeitsstunde“ zu zahlen ist, und darunter eben auch Bereitschaftszeiten fallen sollen, in denen gerade keine Tätigkeit erbracht wird.
Das führt zu der wesentlichen Frage, was unter einer „geleisteten Arbeitsstunde“ zu verstehen ist. Bereits in einer früheren Entscheidung hat das BAG eine vergütungspflichtige Arbeitsleistung nicht nur als Tätigkeit definiert, sondern auch als „eine vom Arbeitgeber veranlasste Untätigkeit, während derer der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz oder einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle anwesend sein muss und nicht frei über die Nutzung des Zeitraums bestimmen kann, er also weder eine Pause noch Freizeit hat“ (BAG, Urteil vom 19.11.2014 – 5 AZR 1101/12). Diese Beeinträchtigung der Freizeit des Arbeitnehmers soll nun zwingend mit dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet werden. Damit reduziert das BAG die Arbeitsleistung zur bloßen „Anwesenheitspflicht“ (so auch Thüsing in NZA 2015 S. 970). Ohne Not hat das BAG damit den vom Gesetzgeber gewünschten Anwendungsbereich des MiLoG deutlich ausgeweitet. Wollte der Gesetzgeber noch einer Arbeitsleistung (also „guter Arbeit“) einen Mindestwert geben, stellt das BAG nun nach dem Motto „Zeit ist Geld!“ auf die bloße Anwesenheitspflicht des Arbeitnehmers ab.
Umgekehrter Fall: Anrechenbarkeit von Leistungszulagen?
Spannend wird sein, wie das BAG den umgekehrten Fall zur „Untätigkeit“ beurteilt, nämlich die Anrechenbarkeit von über dem Grundlohn liegenden Leistungszulagen (Akkordzulage) auf den Mindestlohn. Das ArbG Herford ging in seinem Urteil vom 11.09.2015 – (1 Ca 551/15) noch davon aus, dass lediglich der Grundlohn auf den Mindestlohn anrechenbar sei, weil der Arbeitnehmer nur eine „Normal-“Leistung schulde für die eben der Grundlohn gezahlt werde. Für die Akkordzulage müsse der Arbeitnehmer jedoch eine nicht auf den Mindestlohn anrechenbare Mehrleistung erbringen. Auf die Berufung des Klägers hat das LAG Hamm das Urteil des ArbG Herford aufgehoben und festgestellt, dass die akkordbezogene Leistungszulage Entgelt im engeren Sinne und damit auf den Mindestlohn anrechenbar sei. Geschuldet sei keine objektive, sondern eine individuelle Normalleistung, die im Falle der Klägerin eben mit einer besonderen Leistungszulage vergütet werde (LAG Hamm, Urteil vom 22.04.2016 – 16 Sa 1627/15). Die vom LAG Hamm wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Revision ist nun beim BAG anhängig (10 AZR 317/16). Sollte das BAG bei der Anrechnung von Vergütungsbestandteilen mit dem ArbG Herford nach dem Leistungsgrad differenzieren, müsste es dies erst Recht auch für Bereitschaftszeiten tun. Denn in Bereitschaftszeiten erbringt der Arbeitnehmer nicht nur eine unterhalb seiner „Normal-“Leistung liegende Leistung, sondern gar keine Leistung. Oder wie es das BAG in einer früheren Entscheidung (Urteil vom 22.11.2000 – 4 AZR 612/99) formuliert hat: „Ein Mitarbeiter, der während der Nachtschicht erlaubtermaßen schläft, wird nicht von sich aus, also aus eigener Initiative tätig (…). Der schlafende Arbeitnehmer erbringt nicht (…) eine im Verhältnis zur Vollarbeit graduell geringere Arbeitsleistung, sondern gar keine Arbeitsleistung.“ Bei einer solchen „Untätigkeit“ fehlt es also auch an der „funktionalen Gleichwertigkeit“ von Leistung und Gegenleistung. Ein Mindestlohnanspruch dürfte dafür also nicht gegeben sein.
Fazit: Zeit ist Geld!
In der Praxis ist jedoch nach dem neuen Motto des BAG zu verfahren: „Zeit ist Geld!“ Jede Zeit, die der Arbeitnehmer – außerhalb von Pausenzeiten – auf Veranlassung des Arbeitgebers an einer bestimmten Stelle anwesend sein muss, ist danach mit dem gesetzlichen Mindestlohn zu vergüten. Davon erfasst sind nicht nur typische Berufe mit Bereitschaftszeiten (Feuerwehr, Rettungssanitäter), sondern zum Beispiel auch Taxifahrer, die auf ihren nächsten Fahrgast warten. Eine Vergütungsregelung, nach der Bereitschaftszeiten mit einem unterhalb des Mindestlohns geregelten Satz vergütet werden, ist damit unwirksam und könnte sogar ein Bußgeld nach sich ziehen.