BAG: Gewerkschaft GDF schuldet der Fraport AG einen Schadensersatzanspruch in Höhe von mehr als 5.000.000,00 €

RA/FAArbR Bernd Weller, Partner bei HEUKING KÜHN LÜER WOJTEK, Frankfurt/M.

RA/FAArbR Bernd Weller, Partner bei HEUKING KÜHN LÜER WOJTEK, Frankfurt/M.

In der Tagessschau wurde das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes vom 26. Juli 2016 (1 AZR 160/14) als Überraschung bezeichnet. Für die breite Öffentlichkeit mag es überraschend sein, dass eine Gewerkschaft Schadensersatz für infolge eines Streiks verursachte Schäden beim bestreikten Arbeitgeber schuldet. Wann hat man schon von solch einem Vorgehen gehört? Ist das kein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 GG? Gewährt nicht Art. 9 Abs. 3 GG das Recht auf Streik? Werden damit nicht Arbeitnehmerrechte verletzt?

Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG

Art. 9 Abs. 3 GG ist „die heilige Kuh“ des deutschen Arbeitsrechts. Wenn man die Diskussionen in der Öffentlichkeit, aber auch unter Juristen, in den letzten Jahren verfolgt, gewinnt man den Eindruck, dass Art. 9 Abs. 3 GG ein Freibrief für Gewerkschaften ist und jegliche Sanktionierung von gewerkschaftlich getragenem Handeln verbietet. Das ist natürlich nicht so.

Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet für jedermann und für alle Berufe „das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen bilden.

Schon nach dem Grundgesetz ist die Koalitionsfreiheit daher kein Selbstzweck – sie wird nur eingeräumt, zum Zwecke der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen.

Das deutsche Grundrechtsverständnis weicht insoweit beispielsweise von romanischen Ländern (Frankreich, Italien, auch Belgien) ab. Dort sind Streiks aus vielerlei Gründen zulässig; sie dürfen sich insbesondere gegen politische Grundentscheidungen richten. Die Generalstreiks im Vorfeld der Europameisterschaft, die sich gegen staatliche Reformpakete gerichtet haben, haben dies nur zu deutlich belegt. In Deutschland ist ein solcher Streik unzulässig und rechtswidrig.

Rechtswidrig sind sämtliche Streiks, die

  • tariflich (also mit der Arbeitgeberseite) nicht regelbare Gegenstände beinhalten (daher sind beispielsweise allgemeinpolitische Themen kein Streikthema),
  • sie übermäßige, rechtswidrige Handlungen beinhalten (Sachbeschädigungen, Blockaden etc.),
  • sie um bereits tariflich geregelte Fragen geführt werden und/oder
  • solche Ziele verfolgen, die in den Grundrechtsbereich der Arbeitgeberseite eingreifen (z.B. gegen eine Standortschließung usw.).

Schranken des Art. 9 Abs. 3 GG

Nach dem deutschen Grundrechtsverständnis gibt es nur ein absolutes Recht – Art. 1 Abs. 1 GG – „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Alle anderen Grundrechtspositionen, auch Art. 9 Abs. 3 GG, werden nicht absolut gewährleistet, sondern nur in dem Maße, in dem der eigene Schutzzweck (s.o.) dies verlangt und die Rechte anderer nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt werden. Auch Arbeitgeber können nämlich Grundrechtsschutz für sich reklamieren – Unternehmer- und Eigentumsfreiheit.

Die Abwägung zwischen den beteiligten Grundrechtspositionen erfolgt immer im Wege der so genannten „praktischen Konkordanz“; faktisch wird im Einzelfall untersucht, welche Einschränkungen im welchem Rechtsbereich am ehesten zu vertreten ist.

Tarifvertragssystem / Friedenspflicht

Die Funktionsfähigkeit des deutschen Tarifvertragssystems, dem Art. 9 Abs. 3 GG einzig dient, ist gezeichnet durch die so genannte Friedenspflicht. Die Tarifvertragsparteien, also Gewerkschaften und Arbeitgeber, haben sich jeglicher Arbeitskampfmaßnahme zu enthalten, soweit sie um Regelungen streiten / verhandeln, die bereits in einem noch laufenden Tarifvertrag geregelt sind.

Dieser Grundsatz ist seit Jahrzehnten eine tragende Säule des deutschen Tarif- und Arbeitskampfrechtes. Unter Berufung auf eine bestehende Friedenspflicht werden immer wieder von den Arbeitsgerichten Arbeitskämpfe verboten. Nicht zuletzt die zahlreichen einstweiligen Verfügungsverfahren im „Bahnstreikjahr“ 2007 waren dafür ein Beleg.

Den Gerichten steht die Zensur der Tarifforderungen nicht zu. Also auch für – in der Allgemeinheit als überzogen erachtete – Forderungen darf gestreikt werden. Ein solcher Streik ist aber nicht zulässig, wenn der Forderungsgegenstand (beispielsweise Entgelthöhe) bereits in einem gültigen Tarifvertrag geregelt ist.

Rechtswidriger Streik

Ein Streik, der die oben genannten Grenzen überschreitet, ist rechtswidrig. Insbesondere ein gegen die Friedenspflicht verstoßender Streik ist rechtswidrig. Er kann sich gerade nicht auf Art. 9 Abs. 3 GG stützen.

Wenn nach der jüngsten Entscheidung des BAG – beispielsweise von Tina Groll am 27. Juli 2016 in der Zeit – die Meinung vertreten wird, die Entscheidung des BAG schwäche die Arbeitnehmerrechte, geht dies an der Rechts- und Faktenlage weit vorbei. Durch eine rechtswidrige Arbeitsniederlegung wird zielgerichtet (mit dem Ziel der Schädigung!) in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb eines Unternehmens, hier der Fraport AG, eingegriffen. Das ist eine deliktische Handlung, die Schadensersatzansprüche nach sich zieht. Arbeitnehmer verstoßen gegen ihre Arbeitsverpflichtungen und fehlen unentschuldigt bei der Arbeit, worauf der Arbeitgeber mit Kündigung reagieren könnte.

Lediglich ein rechtmäßiger Streik, der sich also auf Art. 9 Abs. 3 GG berufen kann, kann eine solche Schädigungshandlung und Vertragspflichtverletzung rechtfertigen.

Ohne Rechtfertigung bleibt es bei dem System einer aufgeklärten privatautonomen rechtsstaatlichen Gesellschaft: Wer andere schädigt, muss dafür gerade stehen.

Jedenfalls für Arbeitsrechtler war die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes daher nicht überraschend; sie kann auch nicht als Angriff auf Arbeitnehmerrechte verstanden werden. Das Bundesarbeitsgericht hat im Falle der GDF genauso entschieden wie in weiteren Fällen schon Jahre und Jahrzehnte (beispielsweise gegen die Gewerkschaft ver.di) zuvor. Ruft eine Gewerkschaft zu einem rechtwidrigen Streik auf, dann muss sie für den dadurch entstandenen Schaden haften. Sie steht nämlich nicht außerhalb des Rechtsstaates, sondern ist an dessen Gesetze gebunden.

Hypothetische Alternativszenarien

Die Gewerkschaft GDF hatte, wenn man der Berichterstattung und Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichtes Glauben schenken mag, ihre Schadensersatzpflicht wohl vor allem mit dem folgenden Argument abwehren wollen:

Die Friedenspflichtverletzung habe nur Nebenforderungen betroffen. Bezüglich der Hauptforderungen habe keine Friedenspflicht bestanden. Angesichts der Divergenz der Verhandlungspositionen bei den Hauptforderungen hätte ein Streik in jedem Fall stattgefunden – notfalls eben ohne die der Friedenspflicht unterliegenden Nebenforderung. Nehme man dieses hypothetische (rechtmäßige) Alternativszenario an, wäre derselbe Schaden entstanden; dieser wäre dann allerdings über Art. 9 Abs. 3 GG gerechtfertigt gewesen.

So verführerisch das Argument erscheinen mag, so falsch ist es. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die so genannten Nebenforderungen für die GDF jedenfalls so wichtig gewesen sein müssen, dass diese zum Gegenstand ihres Forderungsschreibens an die Arbeitgeberseite gemacht wurden. Welche der Forderungen wichtiger oder unwichtiger ist, kann nicht (gar im Nachhinein) von der Gewerkschaft definiert werden – dies würde Missbrauch Tür und Tor öffnen. Die Beurteilung müsste also durch die Arbeitsgerichte erfolgen, um rechtsstaatlichen Maßstäben zu genügen. Dies würde letztlich aber auf eine Tarifzensur hinauslaufen. Schließlich stellt sich die Frage, welcher Arbeitnehmer sich durch welche Forderungen zum Streik hat bewegen lassen; auch das lässt sich (im Nachhinein?) nicht bewerten.

Die Frage, ob ein Streik rechtmäßig oder rechtswidrig ist, muss bei Beginn des Streiks feststehen und von allen – Arbeitnehmern, Gewerkschaft und Arbeitgeber beurteilt werden können.

Seit Jahrzehnten vertreten die Arbeitsgerichte daher die Auffassung, dass bereits eine rechtswidrige Forderung den gesamten Streik rechtswidrig macht – getreu dem Motto „ein verdorbenes Ei verdirbt den ganzen Brei“. Das war und ist auch für die streikerfahrene GDF nichts Überraschendes. Sie hat bei der Aufstellung der Forderung augenscheinlich unsauber gearbeitet und muss nun dafür die Konsequenzen ziehen.

Dem Bundesarbeitsgericht ist daher voll umfänglich beizupflichten. Seine Entscheidung ist allerdings – entgegen der ersten Meldungen in „nicht-juristischen Medien“ weder bahnbrechend noch eine Überraschung. Es ist die Fortsetzung einer Serie von Entscheidungen, die schon früher in vergleichbaren Fällen zu demselben Ergebnis kam.

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